Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_542.001 pba_542.026 1 pba_542.033
Diese Sätze widersprechen freilich den gangbaren Theorien von dem Hauptanteil pba_542.034 der "Phantasie" an den Schöpfungen und auch an dem Genusse der Kunst. pba_542.035 Aber man vergesse nicht, daß durch den Sprachgebrauch dieser Begriff ein höchst komplizierter pba_542.036 geworden ist, der die sämtlichen, die bloße Einbildungskraft eigentlich pba_542.037 erst bestimmenden, Kräfte schon einschließt: also je nach Umständen Verstand, Vernunft, pba_542.038 Empfindung, ja das ganze Ensemble dieser, d. h. der seelischen Kräfte überhaupt, pba_542.039 wie oben (s. S. 380 ff.) schon ausgeführt wurde. Jn theoretischen Untersuchungen ist pba_542.040 dieser Begriff daher nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen. pba_542.001 pba_542.026 1 pba_542.033
Diese Sätze widersprechen freilich den gangbaren Theorien von dem Hauptanteil pba_542.034 der „Phantasie“ an den Schöpfungen und auch an dem Genusse der Kunst. pba_542.035 Aber man vergesse nicht, daß durch den Sprachgebrauch dieser Begriff ein höchst komplizierter pba_542.036 geworden ist, der die sämtlichen, die bloße Einbildungskraft eigentlich pba_542.037 erst bestimmenden, Kräfte schon einschließt: also je nach Umständen Verstand, Vernunft, pba_542.038 Empfindung, ja das ganze Ensemble dieser, d. h. der seelischen Kräfte überhaupt, pba_542.039 wie oben (s. S. 380 ff.) schon ausgeführt wurde. Jn theoretischen Untersuchungen ist pba_542.040 dieser Begriff daher nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0560" n="542"/><lb n="pba_542.001"/> obersten Vernunftwahrheiten unmittelbar ausspricht? wie oft thun nicht <lb n="pba_542.002"/> die andern Künste mittelbar dasselbe, indem sie auf jene Wahrheiten <lb n="pba_542.003"/> hindeuten? Beide <hi rendition="#g">verfehlen</hi> ihren Zweck, sobald sie an die eigentliche <lb n="pba_542.004"/> „Vernunftthätigkeit“, an die Erkenntniskraft mit dem Anspruch sich <lb n="pba_542.005"/> wenden, ihrerseits <hi rendition="#g">ihre Arbeit</hi> zu thun: beide <hi rendition="#g">erreichen</hi> ihren Zweck <lb n="pba_542.006"/> <hi rendition="#g">nur,</hi> indem, ganz ohne Erkenntnisthätigkeit, die ausgesprochene oder <lb n="pba_542.007"/> angedeutete Wahrheit <hi rendition="#g">als Ergebnis eines Sinneneindrucks, ästhetisch <lb n="pba_542.008"/> aufgenommen, unmittelbar die Empfindung in Thätigkeit <lb n="pba_542.009"/> versetzt.</hi> Nehmen wir ein griechisches Chorlied, das den großen <lb n="pba_542.010"/> Vernunftgedanken der sittlichen Weltordnung ausspricht: die mächtige <lb n="pba_542.011"/> Wirkung geht <hi rendition="#g">nicht auf Beweis und Erkenntnis,</hi> sondern auf Gestaltung, <lb n="pba_542.012"/> Modifikation, sei es Erhöhung sei es Besänftigung, <hi rendition="#g">der durch <lb n="pba_542.013"/> die Situation aufgeregten Furcht- oder Mitleidsempfindung.</hi> <lb n="pba_542.014"/> Ja sogar hinsichtlich der <hi rendition="#g">Einbildungskraft</hi> findet etwas Verwandtes <lb n="pba_542.015"/> statt, durch dessen Verkennung viele Wirrnis erzeugt ist. Wo die Poesie <lb n="pba_542.016"/> in Schilderung und Erzählung der Unterstützung durch die Einbildungskraft <lb n="pba_542.017"/> benötigt ist, geht ihre Absicht keineswegs auf deren eigentliche <lb n="pba_542.018"/> Thätigkeit, möglichst exakte und vollständige Vorstellung der Gegenstände — <lb n="pba_542.019"/> das würde zur beschreibenden Poesie und nur stofflich wirkender Erzählung <lb n="pba_542.020"/> führen —, sondern sie begehrt ihrer Vorstellungen nur von der <lb n="pba_542.021"/> einen Seite, durch welche sie der nachgeahmten Empfindung, Stimmung, <lb n="pba_542.022"/> Gesinnung Nahrung bieten oder sie der künstlerischen Absicht gemäß modifizieren. <lb n="pba_542.023"/> <hi rendition="#g">Hierdurch</hi> erhalten die „poetischen“ Vorstellungen ihre Lebendigkeit <lb n="pba_542.024"/> und Kraft, <hi rendition="#g">nicht</hi> durch die im Grunde mechanische Thätigkeit der <lb n="pba_542.025"/> Einbildung.<note xml:id="pba_542_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_542.033"/> Diese Sätze widersprechen freilich den gangbaren Theorien von dem Hauptanteil <lb n="pba_542.034"/> der „<hi rendition="#g">Phantasie</hi>“ an den Schöpfungen und auch an dem Genusse der Kunst. <lb n="pba_542.035"/> Aber man vergesse nicht, daß durch den Sprachgebrauch dieser Begriff ein <hi rendition="#g">höchst komplizierter</hi> <lb n="pba_542.036"/> geworden ist, der die sämtlichen, die bloße Einbildungskraft <hi rendition="#g">eigentlich <lb n="pba_542.037"/> erst bestimmenden,</hi> Kräfte schon einschließt: also je nach Umständen Verstand, Vernunft, <lb n="pba_542.038"/> Empfindung, ja das ganze Ensemble dieser, d. h. der seelischen Kräfte überhaupt, <lb n="pba_542.039"/> wie oben (s. S. 380 ff.) schon ausgeführt wurde. Jn theoretischen Untersuchungen ist <lb n="pba_542.040"/> dieser Begriff daher nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen.</note></p> <p><lb n="pba_542.026"/> Jnfolge dieser Theorie, daß zum „freien Vergnügen“ die „geistigen <lb n="pba_542.027"/> Kräfte“ thätig sein müssen, schließt Schiller die „<hi rendition="#g">sinnliche Lust,</hi> wo <lb n="pba_542.028"/> die <hi rendition="#g">Empfindung unmittelbar</hi> auf ihre <hi rendition="#g">sinnliche Ursache erfolgt</hi>“, <lb n="pba_542.029"/> ganz vom Gebiete der Kunst aus. Solche sinnlichen Eindrücke könnten <lb n="pba_542.030"/> nur insofern künstlerisch wirken, als „die Planmäßigkeit ihrer Anordnung <lb n="pba_542.031"/> durch die Vorstellung <hi rendition="#g">erkannt</hi> werde“. Damit wäre nichts Geringeres <lb n="pba_542.032"/> aus der Kunst ausgeschlossen als der <hi rendition="#g">Reiz,</hi> und zwar der Reiz im </p> </div> </body> </text> </TEI> [542/0560]
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obersten Vernunftwahrheiten unmittelbar ausspricht? wie oft thun nicht pba_542.002
die andern Künste mittelbar dasselbe, indem sie auf jene Wahrheiten pba_542.003
hindeuten? Beide verfehlen ihren Zweck, sobald sie an die eigentliche pba_542.004
„Vernunftthätigkeit“, an die Erkenntniskraft mit dem Anspruch sich pba_542.005
wenden, ihrerseits ihre Arbeit zu thun: beide erreichen ihren Zweck pba_542.006
nur, indem, ganz ohne Erkenntnisthätigkeit, die ausgesprochene oder pba_542.007
angedeutete Wahrheit als Ergebnis eines Sinneneindrucks, ästhetisch pba_542.008
aufgenommen, unmittelbar die Empfindung in Thätigkeit pba_542.009
versetzt. Nehmen wir ein griechisches Chorlied, das den großen pba_542.010
Vernunftgedanken der sittlichen Weltordnung ausspricht: die mächtige pba_542.011
Wirkung geht nicht auf Beweis und Erkenntnis, sondern auf Gestaltung, pba_542.012
Modifikation, sei es Erhöhung sei es Besänftigung, der durch pba_542.013
die Situation aufgeregten Furcht- oder Mitleidsempfindung. pba_542.014
Ja sogar hinsichtlich der Einbildungskraft findet etwas Verwandtes pba_542.015
statt, durch dessen Verkennung viele Wirrnis erzeugt ist. Wo die Poesie pba_542.016
in Schilderung und Erzählung der Unterstützung durch die Einbildungskraft pba_542.017
benötigt ist, geht ihre Absicht keineswegs auf deren eigentliche pba_542.018
Thätigkeit, möglichst exakte und vollständige Vorstellung der Gegenstände — pba_542.019
das würde zur beschreibenden Poesie und nur stofflich wirkender Erzählung pba_542.020
führen —, sondern sie begehrt ihrer Vorstellungen nur von der pba_542.021
einen Seite, durch welche sie der nachgeahmten Empfindung, Stimmung, pba_542.022
Gesinnung Nahrung bieten oder sie der künstlerischen Absicht gemäß modifizieren. pba_542.023
Hierdurch erhalten die „poetischen“ Vorstellungen ihre Lebendigkeit pba_542.024
und Kraft, nicht durch die im Grunde mechanische Thätigkeit der pba_542.025
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Jnfolge dieser Theorie, daß zum „freien Vergnügen“ die „geistigen pba_542.027
Kräfte“ thätig sein müssen, schließt Schiller die „sinnliche Lust, wo pba_542.028
die Empfindung unmittelbar auf ihre sinnliche Ursache erfolgt“, pba_542.029
ganz vom Gebiete der Kunst aus. Solche sinnlichen Eindrücke könnten pba_542.030
nur insofern künstlerisch wirken, als „die Planmäßigkeit ihrer Anordnung pba_542.031
durch die Vorstellung erkannt werde“. Damit wäre nichts Geringeres pba_542.032
aus der Kunst ausgeschlossen als der Reiz, und zwar der Reiz im
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Diese Sätze widersprechen freilich den gangbaren Theorien von dem Hauptanteil pba_542.034
der „Phantasie“ an den Schöpfungen und auch an dem Genusse der Kunst. pba_542.035
Aber man vergesse nicht, daß durch den Sprachgebrauch dieser Begriff ein höchst komplizierter pba_542.036
geworden ist, der die sämtlichen, die bloße Einbildungskraft eigentlich pba_542.037
erst bestimmenden, Kräfte schon einschließt: also je nach Umständen Verstand, Vernunft, pba_542.038
Empfindung, ja das ganze Ensemble dieser, d. h. der seelischen Kräfte überhaupt, pba_542.039
wie oben (s. S. 380 ff.) schon ausgeführt wurde. Jn theoretischen Untersuchungen ist pba_542.040
dieser Begriff daher nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen.
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