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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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alle Kunstformen sich in demselben vereinen sollen.1 Jener eng formale pba_546.002
Schönheitsbegriff läßt sich nicht einmal für die bildende Kunst durchführen, pba_546.003
obwohl in dieser doch wenigstens ein Gebiet vorhanden ist, das pba_546.004
demselben völlig entspricht: denn die in Ruhe befindliche Gestalt kann pba_546.005
als summarischer Ausdruck, gewissermaßen als das Ergebnis, nach allen pba_546.006
Seiten oder doch nach einzelnen Richtungen vollendeter Seelenbeschaffenheiten pba_546.007
aufgefaßt werden. So kann eine Götterstatue, ein Madonnenbild pba_546.008
jenem Schönheitsbegriff entsprechen. Aber wie ist es mit einem pba_546.009
Kruzifix, einer Kreuztragung, Geißelung oder vollends einem jüngsten pba_546.010
Gericht? Und doch steht die Frage für die Malerei noch günstig, weil pba_546.011
ein Gemälde um schön zu sein das leidenschaftlich erregende Moment pba_546.012
mit dem klärenden, das pathematische mit dem kathartisch wirkenden pba_546.013
in eine Schau verschmelzen
muß.

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Nun aber erzählte, dramatisch dargestellte Handlungen! Der Versuch pba_546.015
eine einzelne, "vollkommen schöne", Handlung, losgelöst pba_546.016
für sich,
episch oder dramatisch darzustellen, ist nur von der Mittelmäßigkeit pba_546.017
angestellt worden; er ist nie geglückt und kann niemals pba_546.018
glücken. Die That, die den Mittelpunkt einer solchen Handlung bildete, pba_546.019
müßte vollkommen gut sein, d. h. im höchsten Sinne pflichtgemäß und pba_546.020
zugleich durch eine dem Gebote der Pflicht vollkommen entsprechende pba_546.021
Empfindung eingegeben; und zwar müßte, was die Hauptsache ist, ohne pba_546.022
die der That die wirkliche moralische Güte nicht innewohnen kann, diese pba_546.023
Empfindung nicht als momentane Regung auftreten, sondern als feste, pba_546.024
ständige Gesinnungsweise sich kundthun. Die Malerei kann eine solche pba_546.025
durch die bloße Gestalt nachahmen; die Poesie dagegen vermag durch pba_546.026
die Erzählung einer einzelnen That die moralisch vortreffliche und zugleich pba_546.027
schöne Gesinnung nicht für die Anschauung und Empfindung pba_546.028
überzeugend nachzuahmen -- dazu gehört immer das große Ganze pba_546.029
einer Reihe von einzelnen Situationen und Handlungen --, sondern sie pba_546.030
bringt es nur dazu, die Handlung dem moralischen Sinn, d. i. also pba_546.031
dem Forum der Vernunft, zur Beurteilung vorzulegen. Mit andern pba_546.032
Worten, sie hört mit solchem Versuch auf Poesie zu sein und wendet pba_546.033
poetische Hülfsmittel zu erbaulicher, paränetischer, belehrender Wirkung an.

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Dagegen ist in jedem größeren Ganzen einer Handlungsnach-

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Es kann hier nicht verschwiegen werden, daß auch Lessing sich von diesem pba_546.036
Fehler nicht frei gehalten hat, wenn er im Laokoon die "schöne Gestalt" zum Princip pba_546.037
der malerischen und bildenden Kunst macht, wodurch, wie auf der Hand liegt, der sogenannten pba_546.038
Kunst des Ausdrucks in gefährlicher und ungebührlicher Weise Luft und pba_546.039
Licht benommen wird. Allein Lessing hatte in der Dramaturgie schon den Weg beschritten, pba_546.040
der aus diesem leidigen Dilemma herausführt.

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alle Kunstformen sich in demselben vereinen sollen.1 Jener eng formale pba_546.002
Schönheitsbegriff läßt sich nicht einmal für die bildende Kunst durchführen, pba_546.003
obwohl in dieser doch wenigstens ein Gebiet vorhanden ist, das pba_546.004
demselben völlig entspricht: denn die in Ruhe befindliche Gestalt kann pba_546.005
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Seiten oder doch nach einzelnen Richtungen vollendeter Seelenbeschaffenheiten pba_546.007
aufgefaßt werden. So kann eine Götterstatue, ein Madonnenbild pba_546.008
jenem Schönheitsbegriff entsprechen. Aber wie ist es mit einem pba_546.009
Kruzifix, einer Kreuztragung, Geißelung oder vollends einem jüngsten pba_546.010
Gericht? Und doch steht die Frage für die Malerei noch günstig, weil pba_546.011
ein Gemälde um schön zu sein das leidenschaftlich erregende Moment pba_546.012
mit dem klärenden, das pathematische mit dem kathartisch wirkenden pba_546.013
in eine Schau verschmelzen
muß.

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Nun aber erzählte, dramatisch dargestellte Handlungen! Der Versuch pba_546.015
eine einzelne,vollkommen schöne“, Handlung, losgelöst pba_546.016
für sich,
episch oder dramatisch darzustellen, ist nur von der Mittelmäßigkeit pba_546.017
angestellt worden; er ist nie geglückt und kann niemals pba_546.018
glücken. Die That, die den Mittelpunkt einer solchen Handlung bildete, pba_546.019
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zugleich durch eine dem Gebote der Pflicht vollkommen entsprechende pba_546.021
Empfindung eingegeben; und zwar müßte, was die Hauptsache ist, ohne pba_546.022
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Empfindung nicht als momentane Regung auftreten, sondern als feste, pba_546.024
ständige Gesinnungsweise sich kundthun. Die Malerei kann eine solche pba_546.025
durch die bloße Gestalt nachahmen; die Poesie dagegen vermag durch pba_546.026
die Erzählung einer einzelnen That die moralisch vortreffliche und zugleich pba_546.027
schöne Gesinnung nicht für die Anschauung und Empfindung pba_546.028
überzeugend nachzuahmen — dazu gehört immer das große Ganze pba_546.029
einer Reihe von einzelnen Situationen und Handlungen —, sondern sie pba_546.030
bringt es nur dazu, die Handlung dem moralischen Sinn, d. i. also pba_546.031
dem Forum der Vernunft, zur Beurteilung vorzulegen. Mit andern pba_546.032
Worten, sie hört mit solchem Versuch auf Poesie zu sein und wendet pba_546.033
poetische Hülfsmittel zu erbaulicher, paränetischer, belehrender Wirkung an.

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Dagegen ist in jedem größeren Ganzen einer Handlungsnach-

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Es kann hier nicht verschwiegen werden, daß auch Lessing sich von diesem pba_546.036
Fehler nicht frei gehalten hat, wenn er im Laokoon die „schöne Gestalt“ zum Princip pba_546.037
der malerischen und bildenden Kunst macht, wodurch, wie auf der Hand liegt, der sogenannten pba_546.038
Kunst des Ausdrucks in gefährlicher und ungebührlicher Weise Luft und pba_546.039
Licht benommen wird. Allein Lessing hatte in der Dramaturgie schon den Weg beschritten, pba_546.040
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/564>, abgerufen am 22.11.2024.