Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_582.001 pba_582.003 pba_582.027 1 pba_582.031
Es ist der Fall, den Aristoteles in der viel umstrittenen Stelle des Kap. 14 pba_582.032 seiner Poetik als denjenigen bezeichnet, der die beste Tragödie ergibt: daß ein drohendes pba_582.033 Furchtbares durch Erkennung abgewendet wird, durch Erkennung, die nach ihm pba_582.034 sich auf Personen, Dinge, Handlungen, Verhältnisse erstrecken kann. Es ist der pba_582.035 einzige Fall einer Tragödie mit glücklichem Ausgang; jede gute Tragödie, pba_582.036 die glücklich ausläuft, muß so gebaut sein! Nicht anders ist die Komposition von pba_582.037 Goethes "Jphigenie" beschaffen: ist der äußere Gang der Handlung durch die Personenerkennung pba_582.038 der Geschwister bestimmt, so ist der wesentlich innere Verlauf ganz pba_582.039 allein herbeigeführt durch Jphigeniens Enthüllung des in Wahrheit obwaltenden pba_582.040 Verhältnisses und die damit vollbrachte Umwandlung. pba_582.001 pba_582.003 pba_582.027 1 pba_582.031
Es ist der Fall, den Aristoteles in der viel umstrittenen Stelle des Kap. 14 pba_582.032 seiner Poetik als denjenigen bezeichnet, der die beste Tragödie ergibt: daß ein drohendes pba_582.033 Furchtbares durch Erkennung abgewendet wird, durch Erkennung, die nach ihm pba_582.034 sich auf Personen, Dinge, Handlungen, Verhältnisse erstrecken kann. Es ist der pba_582.035 einzige Fall einer Tragödie mit glücklichem Ausgang; jede gute Tragödie, pba_582.036 die glücklich ausläuft, muß so gebaut sein! Nicht anders ist die Komposition von pba_582.037 Goethes „Jphigenie“ beschaffen: ist der äußere Gang der Handlung durch die Personenerkennung pba_582.038 der Geschwister bestimmt, so ist der wesentlich innere Verlauf ganz pba_582.039 allein herbeigeführt durch Jphigeniens Enthüllung des in Wahrheit obwaltenden pba_582.040 Verhältnisses und die damit vollbrachte Umwandlung. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0600" n="582"/><lb n="pba_582.001"/> Entzücken, es als die positive Äußerung der Harmonie des Weltgesetzes <lb n="pba_582.002"/> zu empfinden.<note xml:id="pba_582_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_582.031"/> Es ist der Fall, den Aristoteles in der viel umstrittenen Stelle des Kap. 14 <lb n="pba_582.032"/> seiner Poetik als denjenigen bezeichnet, der die beste Tragödie ergibt: daß ein drohendes <lb n="pba_582.033"/> Furchtbares durch Erkennung abgewendet wird, durch <hi rendition="#g">Erkennung,</hi> die nach ihm <lb n="pba_582.034"/> sich auf Personen, Dinge, <hi rendition="#g">Handlungen, Verhältnisse</hi> erstrecken kann. 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Die griechische Anschauung von einem <hi rendition="#g">Kosmos</hi> nicht <lb n="pba_582.007"/> nur der natürlichen, sondern auch der geistig-sittlichen Welt steht im <lb n="pba_582.008"/> schroffsten Gegensatz zu jeder Art der <hi rendition="#g">dualistischen</hi> Vorstellungsweise. <lb n="pba_582.009"/> Die Verirrung erscheint dieser als das Böse in ewigem Kampf mit <lb n="pba_582.010"/> dem Guten, im Princip auf immer von ihm getrennt; das Unglück ist <lb n="pba_582.011"/> die Strafe des Abfalls, nach dem Ermessen der göttlichen Zucht je nach <lb n="pba_582.012"/> Umständen verhängt oder zugelassen, immer also angesehen als der <lb n="pba_582.013"/> Sold der Sünde, die Vergeltung der Schuld. Wo diese Anschauung <lb n="pba_582.014"/> in Geltung ist, kann die Tragödie nicht aufkommen oder muß sie wieder <lb n="pba_582.015"/> verkümmern. Jn grellen Farben wird sie Schreckbilder des Bösen mit <lb n="pba_582.016"/> Glanzbildern des Guten kontrastieren lassen, oder sie wird, einem gebildeteren <lb n="pba_582.017"/> Geschmack zuliebe, im besten Glauben zum Dienste „sittlicher <lb n="pba_582.018"/> Jdeen“ genötigt, d. h. moralisch-paränetischen Tendenzen unterthan gemacht <lb n="pba_582.019"/> werden, wenn sie die Aufgabe erhält, den Sieg des Edlen über <lb n="pba_582.020"/> das Niedrige und Boshafte zu zeigen, das gekrönte Laster oder Verbrechen <lb n="pba_582.021"/> an den Pranger zu stellen, der verkannten Tugend Verehrer zu <lb n="pba_582.022"/> erwecken: Dienste des Büttels, im bessern Falle des einsichtigen Richters, <lb n="pba_582.023"/> im besten des philosophischen Sittenlehrers! Aber ein Verzicht auf die <lb n="pba_582.024"/> Höhen, aus denen dem Flug des Genius die großartige Einheit in <lb n="pba_582.025"/> dem unendlich sich durchkreuzenden Kampf der Kräfte erscheint, und wo <lb n="pba_582.026"/> aus tausendfachen Dissonanzen die große Harmonie zu ihm heraufklingt!</p> <p><lb n="pba_582.027"/> Und doch! Jst nicht noch heute die Ansicht im Schwange, wenn <lb n="pba_582.028"/> nicht vielleicht die <hi rendition="#g">herrschende,</hi> daß weit über die antike Tragödie, die <lb n="pba_582.029"/> <hi rendition="#g">unverschuldetes Schicksal</hi> darstellte, sich das moderne, dem christlichen <lb n="pba_582.030"/> Bewußtsein entstammte Trauerspiel erhoben habe, das im Lichte </p> </div> </body> </text> </TEI> [582/0600]
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Entzücken, es als die positive Äußerung der Harmonie des Weltgesetzes pba_582.002
zu empfinden. 1
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Als das wahre Urbild der tragischen Kunst gewährt der „Prometheus“ pba_582.004
des Äschylus einen tiefen Einblick in das Wesen der Weltanschauung, pba_582.005
aus der die Tragödie entstanden ist, und auf deren Grunde pba_582.006
sie allein gedeiht. Die griechische Anschauung von einem Kosmos nicht pba_582.007
nur der natürlichen, sondern auch der geistig-sittlichen Welt steht im pba_582.008
schroffsten Gegensatz zu jeder Art der dualistischen Vorstellungsweise. pba_582.009
Die Verirrung erscheint dieser als das Böse in ewigem Kampf mit pba_582.010
dem Guten, im Princip auf immer von ihm getrennt; das Unglück ist pba_582.011
die Strafe des Abfalls, nach dem Ermessen der göttlichen Zucht je nach pba_582.012
Umständen verhängt oder zugelassen, immer also angesehen als der pba_582.013
Sold der Sünde, die Vergeltung der Schuld. Wo diese Anschauung pba_582.014
in Geltung ist, kann die Tragödie nicht aufkommen oder muß sie wieder pba_582.015
verkümmern. Jn grellen Farben wird sie Schreckbilder des Bösen mit pba_582.016
Glanzbildern des Guten kontrastieren lassen, oder sie wird, einem gebildeteren pba_582.017
Geschmack zuliebe, im besten Glauben zum Dienste „sittlicher pba_582.018
Jdeen“ genötigt, d. h. moralisch-paränetischen Tendenzen unterthan gemacht pba_582.019
werden, wenn sie die Aufgabe erhält, den Sieg des Edlen über pba_582.020
das Niedrige und Boshafte zu zeigen, das gekrönte Laster oder Verbrechen pba_582.021
an den Pranger zu stellen, der verkannten Tugend Verehrer zu pba_582.022
erwecken: Dienste des Büttels, im bessern Falle des einsichtigen Richters, pba_582.023
im besten des philosophischen Sittenlehrers! Aber ein Verzicht auf die pba_582.024
Höhen, aus denen dem Flug des Genius die großartige Einheit in pba_582.025
dem unendlich sich durchkreuzenden Kampf der Kräfte erscheint, und wo pba_582.026
aus tausendfachen Dissonanzen die große Harmonie zu ihm heraufklingt!
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Und doch! Jst nicht noch heute die Ansicht im Schwange, wenn pba_582.028
nicht vielleicht die herrschende, daß weit über die antike Tragödie, die pba_582.029
unverschuldetes Schicksal darstellte, sich das moderne, dem christlichen pba_582.030
Bewußtsein entstammte Trauerspiel erhoben habe, das im Lichte
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Es ist der Fall, den Aristoteles in der viel umstrittenen Stelle des Kap. 14 pba_582.032
seiner Poetik als denjenigen bezeichnet, der die beste Tragödie ergibt: daß ein drohendes pba_582.033
Furchtbares durch Erkennung abgewendet wird, durch Erkennung, die nach ihm pba_582.034
sich auf Personen, Dinge, Handlungen, Verhältnisse erstrecken kann. Es ist der pba_582.035
einzige Fall einer Tragödie mit glücklichem Ausgang; jede gute Tragödie, pba_582.036
die glücklich ausläuft, muß so gebaut sein! Nicht anders ist die Komposition von pba_582.037
Goethes „Jphigenie“ beschaffen: ist der äußere Gang der Handlung durch die Personenerkennung pba_582.038
der Geschwister bestimmt, so ist der wesentlich innere Verlauf ganz pba_582.039
allein herbeigeführt durch Jphigeniens Enthüllung des in Wahrheit obwaltenden pba_582.040
Verhältnisses und die damit vollbrachte Umwandlung.
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