Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_596.001 pba_596.010 pba_596.017 1 pba_596.032
Der Fluch, daß, wenn ihm ein Sohn geboren werden sollte, er durch diesen pba_596.033 sterben würde, ging von Pelops aus, dessen Sohn Chrysippus er geraubt und geschändet pba_596.034 hatte. Seine Ehe mit Jokaste war zuerst kinderlos; das Orakel, das er um pba_596.035 Rat anging, gab ihm jenen Spruch zur Antwort. Trotz dreimaliger Warnung erzeugte pba_596.036 er "dem schlimmen Rat der Lüste folgend" den Sohn, der ihm verderblich pba_596.037 wurde. (Vgl. Äschyl. Septem V. 744-752; Euripid. Phöniss. V. 13-21; und pba_596.038 Aristophanes Grammat. zu den Phöniss. des Euripid. ed. Nauck II, S. 393 ff. Jn pba_596.039 einer besonderen Tragödie, Chrysippus, hatte Euripides den Stoff behandelt: vgl. die pba_596.040 Ausgabe von Nauck III, S. 234, wo auch die weiteren Zeugnisse angegeben sind.) pba_596.001 pba_596.010 pba_596.017 1 pba_596.032
Der Fluch, daß, wenn ihm ein Sohn geboren werden sollte, er durch diesen pba_596.033 sterben würde, ging von Pelops aus, dessen Sohn Chrysippus er geraubt und geschändet pba_596.034 hatte. Seine Ehe mit Jokaste war zuerst kinderlos; das Orakel, das er um pba_596.035 Rat anging, gab ihm jenen Spruch zur Antwort. Trotz dreimaliger Warnung erzeugte pba_596.036 er „dem schlimmen Rat der Lüste folgend“ den Sohn, der ihm verderblich pba_596.037 wurde. (Vgl. Äschyl. Septem V. 744–752; Euripid. Phöniss. V. 13–21; und pba_596.038 Aristophanes Grammat. zu den Phöniss. des Euripid. ed. Nauck II, S. 393 ff. Jn pba_596.039 einer besonderen Tragödie, Chrysippus, hatte Euripides den Stoff behandelt: vgl. die pba_596.040 Ausgabe von Nauck III, S. 234, wo auch die weiteren Zeugnisse angegeben sind.) <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0614" n="596"/><lb n="pba_596.001"/> gegen den überwiegenden zu kräftigen, also bald dem Mitleid, bald der <lb n="pba_596.002"/> Furcht seine Stimme zu leihen, sodann aber für die Herstellung der <lb n="pba_596.003"/> Symmetrie der beiden Affekte sein ganzes Gewicht einzusetzen, hier <lb n="pba_596.004"/> gewissermaßen seinen ständigen Posten zu fassen: so war mit dieser doppelten <lb n="pba_596.005"/> Aufgabe auch seine doppelte Stellung gegeben, bald inmitten der <lb n="pba_596.006"/> Handlung und <hi rendition="#g">neben</hi> dem Träger des Leidens, in seine Empfindungen <lb n="pba_596.007"/> einstimmend, bald als über ihn und über die Gesamthandlung sich erhebend <lb n="pba_596.008"/> und so natürlich „für alle Tragödien sich gleich bleibend“, „immer eins <lb n="pba_596.009"/> mit sich selbst“, „eine ideale Person“.</p> <p><lb n="pba_596.010"/> Trotz dieser Schwankungen der Theorie, durch die Schiller sich <lb n="pba_596.011"/> wohl hat bestimmen lassen die Betrachtungen des Chors mitunter zu <lb n="pba_596.012"/> weit ins allgemein Sententiöse zu leiten, ist aus diesen Erwägungen <lb n="pba_596.013"/> eine Tragödie hervorgegangen, welche in allem Wesentlichen genau den <lb n="pba_596.014"/> Forderungen der aristotelischen Definition entspricht. Es dürfte kein <lb n="pba_596.015"/> Stück gefunden werden, das dem Vorbild des Sophokleischen Ödipus <lb n="pba_596.016"/> so nahe kommt als Schillers „<hi rendition="#g">Braut von Messina</hi>“.</p> <p><lb n="pba_596.017"/> Die Handlung ist wie dort eine verwickelte, sie beruht auf Erkennung <lb n="pba_596.018"/> und damit verbundener Peripetie. Die Erkennung betrifft den <lb n="pba_596.019"/> Personenstand, setzt also eine Verheimlichung desselben voraus und <lb n="pba_596.020"/> verlegt damit den eigentlichen Anlaß des furchtbaren Geschehnisses in <lb n="pba_596.021"/> die Vorgeschichte der Handlung. Hier wie dort ist aus einer Übelthat <lb n="pba_596.022"/> ein Fluch für die nachfolgenden Generationen hervorgegangen, der durch <lb n="pba_596.023"/> den Versuch der Umgehung in furchtbarer Peripetie gerade erfüllt wird. <lb n="pba_596.024"/> Sophokles erwähnt den Frevel des La<hi rendition="#aq">ï</hi>os nicht, weil er die Kenntnis <lb n="pba_596.025"/> der Sage<note xml:id="pba_596_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_596.032"/> Der Fluch, daß, wenn ihm ein Sohn geboren werden sollte, er durch diesen <lb n="pba_596.033"/> sterben würde, ging von Pelops aus, dessen Sohn Chrysippus er geraubt und geschändet <lb n="pba_596.034"/> hatte. Seine Ehe mit Jokaste war zuerst kinderlos; das Orakel, das er um <lb n="pba_596.035"/> Rat anging, gab ihm jenen Spruch zur Antwort. Trotz dreimaliger Warnung erzeugte <lb n="pba_596.036"/> er „dem schlimmen Rat der Lüste folgend“ den Sohn, der ihm verderblich <lb n="pba_596.037"/> wurde. (Vgl. <hi rendition="#g">Äschyl.</hi> Septem V. 744–752; <hi rendition="#g">Euripid.</hi> Phöniss. V. 13–21; und <lb n="pba_596.038"/> Aristophanes Grammat. zu den Phöniss. des Euripid. ed. Nauck II, S. 393 ff. Jn <lb n="pba_596.039"/> einer besonderen Tragödie, Chrysippus, hatte Euripides den Stoff behandelt: vgl. die <lb n="pba_596.040"/> Ausgabe von Nauck III, S. 234, wo auch die weiteren Zeugnisse angegeben sind.)</note> bei seinen Zuschauern voraussetzte, und weil er ohnehin sicher <lb n="pba_596.026"/> sein konnte, daß sie einen Orakelspruch, wie er La<hi rendition="#aq">ï</hi>os zu teil geworden <lb n="pba_596.027"/> war, schon an sich nicht anders auffassen konnten als infolge einer <lb n="pba_596.028"/> schweren Verletzung der göttlichen Ordnungen ergangen. Dagegen <lb n="pba_596.029"/> war es für Schiller unumgänglich geboten, den die Grundlagen seines <lb n="pba_596.030"/> Stückes bedingenden Teil der Vorgeschichte, die Frevelthat des „alten <lb n="pba_596.031"/> Fürsten“, wiederholt und nachdrücklich zu erwähnen. Das Stärkste sagt </p> </div> </body> </text> </TEI> [596/0614]
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gegen den überwiegenden zu kräftigen, also bald dem Mitleid, bald der pba_596.002
Furcht seine Stimme zu leihen, sodann aber für die Herstellung der pba_596.003
Symmetrie der beiden Affekte sein ganzes Gewicht einzusetzen, hier pba_596.004
gewissermaßen seinen ständigen Posten zu fassen: so war mit dieser doppelten pba_596.005
Aufgabe auch seine doppelte Stellung gegeben, bald inmitten der pba_596.006
Handlung und neben dem Träger des Leidens, in seine Empfindungen pba_596.007
einstimmend, bald als über ihn und über die Gesamthandlung sich erhebend pba_596.008
und so natürlich „für alle Tragödien sich gleich bleibend“, „immer eins pba_596.009
mit sich selbst“, „eine ideale Person“.
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Trotz dieser Schwankungen der Theorie, durch die Schiller sich pba_596.011
wohl hat bestimmen lassen die Betrachtungen des Chors mitunter zu pba_596.012
weit ins allgemein Sententiöse zu leiten, ist aus diesen Erwägungen pba_596.013
eine Tragödie hervorgegangen, welche in allem Wesentlichen genau den pba_596.014
Forderungen der aristotelischen Definition entspricht. Es dürfte kein pba_596.015
Stück gefunden werden, das dem Vorbild des Sophokleischen Ödipus pba_596.016
so nahe kommt als Schillers „Braut von Messina“.
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Die Handlung ist wie dort eine verwickelte, sie beruht auf Erkennung pba_596.018
und damit verbundener Peripetie. Die Erkennung betrifft den pba_596.019
Personenstand, setzt also eine Verheimlichung desselben voraus und pba_596.020
verlegt damit den eigentlichen Anlaß des furchtbaren Geschehnisses in pba_596.021
die Vorgeschichte der Handlung. Hier wie dort ist aus einer Übelthat pba_596.022
ein Fluch für die nachfolgenden Generationen hervorgegangen, der durch pba_596.023
den Versuch der Umgehung in furchtbarer Peripetie gerade erfüllt wird. pba_596.024
Sophokles erwähnt den Frevel des Laïos nicht, weil er die Kenntnis pba_596.025
der Sage 1 bei seinen Zuschauern voraussetzte, und weil er ohnehin sicher pba_596.026
sein konnte, daß sie einen Orakelspruch, wie er Laïos zu teil geworden pba_596.027
war, schon an sich nicht anders auffassen konnten als infolge einer pba_596.028
schweren Verletzung der göttlichen Ordnungen ergangen. Dagegen pba_596.029
war es für Schiller unumgänglich geboten, den die Grundlagen seines pba_596.030
Stückes bedingenden Teil der Vorgeschichte, die Frevelthat des „alten pba_596.031
Fürsten“, wiederholt und nachdrücklich zu erwähnen. Das Stärkste sagt
1 pba_596.032
Der Fluch, daß, wenn ihm ein Sohn geboren werden sollte, er durch diesen pba_596.033
sterben würde, ging von Pelops aus, dessen Sohn Chrysippus er geraubt und geschändet pba_596.034
hatte. Seine Ehe mit Jokaste war zuerst kinderlos; das Orakel, das er um pba_596.035
Rat anging, gab ihm jenen Spruch zur Antwort. Trotz dreimaliger Warnung erzeugte pba_596.036
er „dem schlimmen Rat der Lüste folgend“ den Sohn, der ihm verderblich pba_596.037
wurde. (Vgl. Äschyl. Septem V. 744–752; Euripid. Phöniss. V. 13–21; und pba_596.038
Aristophanes Grammat. zu den Phöniss. des Euripid. ed. Nauck II, S. 393 ff. Jn pba_596.039
einer besonderen Tragödie, Chrysippus, hatte Euripides den Stoff behandelt: vgl. die pba_596.040
Ausgabe von Nauck III, S. 234, wo auch die weiteren Zeugnisse angegeben sind.)
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