pba_595.001 ganze Gemüt erweitert. Diese eine Riesengestalt in seinem Bilde nötigt pba_595.002 ihn, alle seine Figuren auf den Kothurn zu stellen und seinem Gemälde pba_595.003 dadurch die tragische Größe zu geben."
pba_595.004 Es liegt auf der Hand, daß dieses Argument ein rein äußerliches pba_595.005 wird, wenn die "tragische Größe" der Handlung nicht ohnehin eigen pba_595.006 ist, d. h. mit andern Worten, wenn die Handlung nicht die veranlassenden pba_595.007 Elemente für die großartigen Empfindungsäußerungen des pba_595.008 Chors enthält, d. i. wenn sie nicht auf die Erweckung von Furcht und pba_595.009 Mitleid und die Vollendung ihrer Katharsis angelegt ist.
pba_595.010 4) "So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er pba_595.011 Ruhe in die Handlung -- aber die schöne und hohe Ruhe, die der pba_595.012 Charakter eines edlen Kunstwerkes sein muß. Denn das Gemüt des pba_595.013 Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten; pba_595.014 es soll kein Raub der Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter pba_595.015 von den Rührungen scheiden, die es erleidet."
pba_595.016 Wie nahe kommt Schiller mit diesen Worten der Forderung der pba_595.017 tragischen Katharsis! Sie in voller Klarheit zu erkennen, daran hindert pba_595.018 ihn ein Rest seiner früheren Kunsttheorie, der sich in der weiteren pba_595.019 Motivierung bemerkbar macht. Daß der Chor die "Gewalt der Affekte pba_595.020 breche", sei an ihm nicht zu tadeln, sondern gereiche ihm zur höchsten pba_595.021 Empfehlung; "denn eben diese blinde Gewalt der Affekte ist es, die der pba_595.022 wahre Künstler vermeidet". Aber anstatt nun den richtigen Affekt pba_595.023 selbst als Wirkungsziel in Aussicht zu nehmen, bleibt er mit seiner pba_595.024 Betrachtungsweise bei nebengeordneten oder mehr äußerlichen Argumenten pba_595.025 stehen: träte der Chor nicht mit seiner Würde dazwischen, "so pba_595.026 würde das Leiden über die Thätigkeit siegen"; "wir würden uns mit pba_595.027 dem Stoffe vermengen und nicht mehr über demselben schweben"; "dadurch, pba_595.028 daß er die Teile auseinander hält und zwischen die Passionen pba_595.029 mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, gibt er uns unsere Freiheit pba_595.030 zurück, die im Sturm der Affekte verloren gehen würde".
pba_595.031 Betreffs der Einheitlichkeit des Chors und seiner dramatischen pba_595.032 Verwendung als Person folgt noch die wichtige Bemerkung, die mit dem pba_595.033 Verfahren der antiken Tragiker in völligem Einklange steht, daß zu pba_595.034 unterscheiden sei, "wo der Chor als wirkliche Person und als blinde pba_595.035 Menge mithandelt", und "wo er als ideale Person auftritt" und pba_595.036 "immer eins mit sich selbst" bleibt. Nur hätte Schiller hinzufügen pba_595.037 können, daß bei den Alten auch diese Unterscheidung eine organische pba_595.038 und gewissermaßen von selbst aus der Hauptaufgabe des Chors hervorgehende pba_595.039 war. Bestand diese letztere darin, einmal je nach dem Bedürfnis pba_595.040 des Stoffes den durch denselben minder stark erregten Affekt
pba_595.001 ganze Gemüt erweitert. Diese eine Riesengestalt in seinem Bilde nötigt pba_595.002 ihn, alle seine Figuren auf den Kothurn zu stellen und seinem Gemälde pba_595.003 dadurch die tragische Größe zu geben.“
pba_595.004 Es liegt auf der Hand, daß dieses Argument ein rein äußerliches pba_595.005 wird, wenn die „tragische Größe“ der Handlung nicht ohnehin eigen pba_595.006 ist, d. h. mit andern Worten, wenn die Handlung nicht die veranlassenden pba_595.007 Elemente für die großartigen Empfindungsäußerungen des pba_595.008 Chors enthält, d. i. wenn sie nicht auf die Erweckung von Furcht und pba_595.009 Mitleid und die Vollendung ihrer Katharsis angelegt ist.
pba_595.010 4) „So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er pba_595.011 Ruhe in die Handlung — aber die schöne und hohe Ruhe, die der pba_595.012 Charakter eines edlen Kunstwerkes sein muß. Denn das Gemüt des pba_595.013 Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten; pba_595.014 es soll kein Raub der Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter pba_595.015 von den Rührungen scheiden, die es erleidet.“
pba_595.016 Wie nahe kommt Schiller mit diesen Worten der Forderung der pba_595.017 tragischen Katharsis! Sie in voller Klarheit zu erkennen, daran hindert pba_595.018 ihn ein Rest seiner früheren Kunsttheorie, der sich in der weiteren pba_595.019 Motivierung bemerkbar macht. Daß der Chor die „Gewalt der Affekte pba_595.020 breche“, sei an ihm nicht zu tadeln, sondern gereiche ihm zur höchsten pba_595.021 Empfehlung; „denn eben diese blinde Gewalt der Affekte ist es, die der pba_595.022 wahre Künstler vermeidet“. Aber anstatt nun den richtigen Affekt pba_595.023 selbst als Wirkungsziel in Aussicht zu nehmen, bleibt er mit seiner pba_595.024 Betrachtungsweise bei nebengeordneten oder mehr äußerlichen Argumenten pba_595.025 stehen: träte der Chor nicht mit seiner Würde dazwischen, „so pba_595.026 würde das Leiden über die Thätigkeit siegen“; „wir würden uns mit pba_595.027 dem Stoffe vermengen und nicht mehr über demselben schweben“; „dadurch, pba_595.028 daß er die Teile auseinander hält und zwischen die Passionen pba_595.029 mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, gibt er uns unsere Freiheit pba_595.030 zurück, die im Sturm der Affekte verloren gehen würde“.
pba_595.031 Betreffs der Einheitlichkeit des Chors und seiner dramatischen pba_595.032 Verwendung als Person folgt noch die wichtige Bemerkung, die mit dem pba_595.033 Verfahren der antiken Tragiker in völligem Einklange steht, daß zu pba_595.034 unterscheiden sei, „wo der Chor als wirkliche Person und als blinde pba_595.035 Menge mithandelt“, und „wo er als ideale Person auftritt“ und pba_595.036 „immer eins mit sich selbst“ bleibt. Nur hätte Schiller hinzufügen pba_595.037 können, daß bei den Alten auch diese Unterscheidung eine organische pba_595.038 und gewissermaßen von selbst aus der Hauptaufgabe des Chors hervorgehende pba_595.039 war. Bestand diese letztere darin, einmal je nach dem Bedürfnis pba_595.040 des Stoffes den durch denselben minder stark erregten Affekt
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 595. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/613>, abgerufen am 22.11.2024.
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