Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

pba_604.001
Ordnung: "Drunten aber im Tiefen sitzen lichtlos, ohne Gesang und pba_604.002
Sprache, der Themis Töchter, die nie vergessen, die Untrüglichen, die pba_604.003
mit Gerechtigkeit messen!" Und weiter: "Nichts ist verloren und verschwunden, pba_604.004
was die geheimnisvoll waltenden Stunden in den dunkel pba_604.005
schaffenden Schoß aufnahmen -- die Zeit ist eine blühende Flur, ein pba_604.006
großes Lebendiges ist die Natur, und alles ist Frucht, und pba_604.007
alles ist Samen.
"

pba_604.008
Zu spät erfolgt die Erkennung. Zum zerschmetternden Schlage pba_604.009
hat sich gewandelt, was ein ringsum segenverbreitendes Glück hätte pba_604.010
werden können. Das Unheil ist geschehen, das nicht mehr gut zu machen pba_604.011
ist; es bleibt nur die Aussicht auf noch weiteres Leid und auf ein Leben pba_604.012
voll Schmerz und Entsagung. Hier tritt der Chor mit der ganzen pba_604.013
kathartischen "Heilungskraft" auf, deren die tragische Kunst fähig ist pba_604.014
und für die sie kein annähernd so mächtiges Organ besitzt als eben ihn. pba_604.015
Die Furcht und mit ihr das Mitleid hebt er hoch empor über die Enge pba_604.016
des schrecklichen Einzelfalles zu dem unmittelbaren Anschauen der ewigen pba_604.017
Gesetze, denen alles Menschenlos gleichmäßig unterworfen ist: wahrlich pba_604.018
nicht um von Furcht und Mitleid die Herzen der tief ergriffenen Zuschauer pba_604.019
zu entladen, sondern um sie gleichsam zu dem reinen Akkord pba_604.020
der rechten Schicksalsempfindungen
zu stimmen!

pba_604.021
Durch die Straßen der Städte, pba_604.022
Von Jammer gefolget, pba_604.023
Schreitet das Unglück -- pba_604.024
Lauernd umschleicht es pba_604.025
Die Häuser der Menschen, pba_604.026
Heute an dieser pba_604.027
Pforte pocht es, pba_604.028
Morgen an jener, pba_604.029
Aber noch keinen hat es verschont. pba_604.030
Die unerwünschte pba_604.031
Schmerzliche Botschaft pba_604.032
Früher oder später pba_604.033
Bestellt es an jeder pba_604.034
Schwelle, wo ein Lebendiger wohnt.
pba_604.035
Wenn die Blätter fallen pba_604.036
Jn des Jahres Kreise, pba_604.037
Wenn zum Grabe wallen pba_604.038
Entnervte Greise, pba_604.039
Da gehorcht die Natur pba_604.040
Ruhig nur pba_604.041
Jhrem alten Gesetze, pba_604.042
Jhrem ewigen Brauch, pba_604.043
Da ist nichts, was den Menschen entsetze!

pba_604.001
Ordnung: „Drunten aber im Tiefen sitzen lichtlos, ohne Gesang und pba_604.002
Sprache, der Themis Töchter, die nie vergessen, die Untrüglichen, die pba_604.003
mit Gerechtigkeit messen!“ Und weiter: „Nichts ist verloren und verschwunden, pba_604.004
was die geheimnisvoll waltenden Stunden in den dunkel pba_604.005
schaffenden Schoß aufnahmen — die Zeit ist eine blühende Flur, ein pba_604.006
großes Lebendiges ist die Natur, und alles ist Frucht, und pba_604.007
alles ist Samen.

pba_604.008
Zu spät erfolgt die Erkennung. Zum zerschmetternden Schlage pba_604.009
hat sich gewandelt, was ein ringsum segenverbreitendes Glück hätte pba_604.010
werden können. Das Unheil ist geschehen, das nicht mehr gut zu machen pba_604.011
ist; es bleibt nur die Aussicht auf noch weiteres Leid und auf ein Leben pba_604.012
voll Schmerz und Entsagung. Hier tritt der Chor mit der ganzen pba_604.013
kathartischen „Heilungskraft“ auf, deren die tragische Kunst fähig ist pba_604.014
und für die sie kein annähernd so mächtiges Organ besitzt als eben ihn. pba_604.015
Die Furcht und mit ihr das Mitleid hebt er hoch empor über die Enge pba_604.016
des schrecklichen Einzelfalles zu dem unmittelbaren Anschauen der ewigen pba_604.017
Gesetze, denen alles Menschenlos gleichmäßig unterworfen ist: wahrlich pba_604.018
nicht um von Furcht und Mitleid die Herzen der tief ergriffenen Zuschauer pba_604.019
zu entladen, sondern um sie gleichsam zu dem reinen Akkord pba_604.020
der rechten Schicksalsempfindungen
zu stimmen!

pba_604.021
Durch die Straßen der Städte, pba_604.022
Von Jammer gefolget, pba_604.023
Schreitet das Unglück — pba_604.024
Lauernd umschleicht es pba_604.025
Die Häuser der Menschen, pba_604.026
Heute an dieser pba_604.027
Pforte pocht es, pba_604.028
Morgen an jener, pba_604.029
Aber noch keinen hat es verschont. pba_604.030
Die unerwünschte pba_604.031
Schmerzliche Botschaft pba_604.032
Früher oder später pba_604.033
Bestellt es an jeder pba_604.034
Schwelle, wo ein Lebendiger wohnt.
pba_604.035
Wenn die Blätter fallen pba_604.036
Jn des Jahres Kreise, pba_604.037
Wenn zum Grabe wallen pba_604.038
Entnervte Greise, pba_604.039
Da gehorcht die Natur pba_604.040
Ruhig nur pba_604.041
Jhrem alten Gesetze, pba_604.042
Jhrem ewigen Brauch, pba_604.043
Da ist nichts, was den Menschen entsetze!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0622" n="604"/><lb n="pba_604.001"/>
Ordnung: &#x201E;Drunten aber im Tiefen sitzen lichtlos, ohne Gesang und <lb n="pba_604.002"/>
Sprache, der Themis Töchter, die nie vergessen, die Untrüglichen, die <lb n="pba_604.003"/>
mit Gerechtigkeit messen!&#x201C; Und weiter: &#x201E;Nichts ist verloren und verschwunden, <lb n="pba_604.004"/>
was die geheimnisvoll waltenden Stunden in den dunkel <lb n="pba_604.005"/>
schaffenden Schoß aufnahmen &#x2014; die Zeit ist eine blühende Flur, <hi rendition="#g">ein <lb n="pba_604.006"/>
großes Lebendiges ist die Natur, und alles ist Frucht, und <lb n="pba_604.007"/>
alles ist Samen.</hi>&#x201C;</p>
        <p><lb n="pba_604.008"/>
Zu spät erfolgt die Erkennung. Zum zerschmetternden Schlage <lb n="pba_604.009"/>
hat sich gewandelt, was ein ringsum segenverbreitendes Glück hätte <lb n="pba_604.010"/>
werden können. Das Unheil ist geschehen, das nicht mehr gut zu machen <lb n="pba_604.011"/>
ist; es bleibt nur die Aussicht auf noch weiteres Leid und auf ein Leben <lb n="pba_604.012"/>
voll Schmerz und Entsagung. Hier tritt der Chor mit der ganzen <lb n="pba_604.013"/>
kathartischen &#x201E;Heilungskraft&#x201C; auf, deren die tragische Kunst fähig ist <lb n="pba_604.014"/>
und für die sie kein annähernd so mächtiges Organ besitzt als eben ihn. <lb n="pba_604.015"/>
Die Furcht und mit ihr das Mitleid hebt er hoch empor über die Enge <lb n="pba_604.016"/>
des schrecklichen Einzelfalles zu dem unmittelbaren Anschauen der ewigen <lb n="pba_604.017"/>
Gesetze, denen <hi rendition="#g">alles</hi> Menschenlos gleichmäßig unterworfen ist: wahrlich <lb n="pba_604.018"/> <hi rendition="#g">nicht</hi> um von Furcht und Mitleid die Herzen der tief ergriffenen Zuschauer <lb n="pba_604.019"/>
zu <hi rendition="#g">entladen,</hi> sondern um sie gleichsam <hi rendition="#g">zu dem reinen Akkord <lb n="pba_604.020"/>
der rechten Schicksalsempfindungen</hi> zu stimmen!</p>
        <lb n="pba_604.021"/>
        <lg>
          <l>Durch die Straßen der Städte,</l>
          <lb n="pba_604.022"/>
          <l>Von Jammer gefolget,</l>
          <lb n="pba_604.023"/>
          <l>Schreitet das Unglück &#x2014;</l>
          <lb n="pba_604.024"/>
          <l>Lauernd umschleicht es</l>
          <lb n="pba_604.025"/>
          <l>Die Häuser der Menschen,</l>
          <lb n="pba_604.026"/>
          <l>Heute an dieser</l>
          <lb n="pba_604.027"/>
          <l>Pforte pocht es,</l>
          <lb n="pba_604.028"/>
          <l>Morgen an jener,</l>
          <lb n="pba_604.029"/>
          <l>Aber noch keinen hat es verschont.</l>
          <lb n="pba_604.030"/>
          <l>Die unerwünschte</l>
          <lb n="pba_604.031"/>
          <l>Schmerzliche Botschaft</l>
          <lb n="pba_604.032"/>
          <l>Früher oder später</l>
          <lb n="pba_604.033"/>
          <l>Bestellt es an jeder</l>
          <lb n="pba_604.034"/>
          <l>Schwelle, wo ein Lebendiger wohnt. </l>
        </lg>
        <lg>
          <lb n="pba_604.035"/>
          <l>  Wenn die Blätter fallen</l>
          <lb n="pba_604.036"/>
          <l>Jn des Jahres Kreise,</l>
          <lb n="pba_604.037"/>
          <l>Wenn zum Grabe wallen</l>
          <lb n="pba_604.038"/>
          <l>Entnervte Greise,</l>
          <lb n="pba_604.039"/>
          <l>Da gehorcht die Natur</l>
          <lb n="pba_604.040"/>
          <l>Ruhig nur</l>
          <lb n="pba_604.041"/>
          <l>Jhrem alten Gesetze,</l>
          <lb n="pba_604.042"/>
          <l>Jhrem ewigen Brauch,</l>
          <lb n="pba_604.043"/>
          <l>Da ist nichts, was den Menschen entsetze!</l>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[604/0622] pba_604.001 Ordnung: „Drunten aber im Tiefen sitzen lichtlos, ohne Gesang und pba_604.002 Sprache, der Themis Töchter, die nie vergessen, die Untrüglichen, die pba_604.003 mit Gerechtigkeit messen!“ Und weiter: „Nichts ist verloren und verschwunden, pba_604.004 was die geheimnisvoll waltenden Stunden in den dunkel pba_604.005 schaffenden Schoß aufnahmen — die Zeit ist eine blühende Flur, ein pba_604.006 großes Lebendiges ist die Natur, und alles ist Frucht, und pba_604.007 alles ist Samen.“ pba_604.008 Zu spät erfolgt die Erkennung. Zum zerschmetternden Schlage pba_604.009 hat sich gewandelt, was ein ringsum segenverbreitendes Glück hätte pba_604.010 werden können. Das Unheil ist geschehen, das nicht mehr gut zu machen pba_604.011 ist; es bleibt nur die Aussicht auf noch weiteres Leid und auf ein Leben pba_604.012 voll Schmerz und Entsagung. Hier tritt der Chor mit der ganzen pba_604.013 kathartischen „Heilungskraft“ auf, deren die tragische Kunst fähig ist pba_604.014 und für die sie kein annähernd so mächtiges Organ besitzt als eben ihn. pba_604.015 Die Furcht und mit ihr das Mitleid hebt er hoch empor über die Enge pba_604.016 des schrecklichen Einzelfalles zu dem unmittelbaren Anschauen der ewigen pba_604.017 Gesetze, denen alles Menschenlos gleichmäßig unterworfen ist: wahrlich pba_604.018 nicht um von Furcht und Mitleid die Herzen der tief ergriffenen Zuschauer pba_604.019 zu entladen, sondern um sie gleichsam zu dem reinen Akkord pba_604.020 der rechten Schicksalsempfindungen zu stimmen! pba_604.021 Durch die Straßen der Städte, pba_604.022 Von Jammer gefolget, pba_604.023 Schreitet das Unglück — pba_604.024 Lauernd umschleicht es pba_604.025 Die Häuser der Menschen, pba_604.026 Heute an dieser pba_604.027 Pforte pocht es, pba_604.028 Morgen an jener, pba_604.029 Aber noch keinen hat es verschont. pba_604.030 Die unerwünschte pba_604.031 Schmerzliche Botschaft pba_604.032 Früher oder später pba_604.033 Bestellt es an jeder pba_604.034 Schwelle, wo ein Lebendiger wohnt. pba_604.035 Wenn die Blätter fallen pba_604.036 Jn des Jahres Kreise, pba_604.037 Wenn zum Grabe wallen pba_604.038 Entnervte Greise, pba_604.039 Da gehorcht die Natur pba_604.040 Ruhig nur pba_604.041 Jhrem alten Gesetze, pba_604.042 Jhrem ewigen Brauch, pba_604.043 Da ist nichts, was den Menschen entsetze!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/622
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/622>, abgerufen am 22.11.2024.