pba_608.001 Dem strengen Gesetz der Furchtempfindung ist volles Genüge geschehen: pba_608.002 aber nicht mit dem Eindruck starrer Gesetzlichkeit darf uns die pba_608.003 Tragödie entlassen. Mit der wunderbar schmelzenden Kraft der reinen pba_608.004 Schönheit machen die letzten Scenen den reichen Quell des Mitleids pba_608.005 fließen, das von der Furcht geläutert, ihr innig vermählt, nicht pba_608.006 länger als der "trübe Strom des Jammers" wild daherrauscht, sondern pba_608.007 das von selbst sein rechtes Bette findet, in welchem es tief und ruhig pba_608.008 strömend sich ergießt. Jn diesen wundervollen Scenen tritt die reine pba_608.009 Schönheit uns entgegen, denn hier haben alle handelnden Personen pba_608.010 die echte und rechte Katharsis schon in sich erfahren, was sie sprechen und pba_608.011 thun, ist das Ergebnis dieser im tiefsten Jnnern durchlebten Läuterung, pba_608.012 Reinigung, Entsühnung. Hier endlich sind die Leidenschaften ausgeglichen, pba_608.013 und nur die sanfte Stimme reiner, edler Menschlichkeit läßt sich pba_608.014 vernehmen. Doch das rührende Flehen der versöhnten Mutter, die ergreifende pba_608.015 Bitte der liebenden Schwester vermögen das Opfer nicht aufzuhalten, pba_608.016 das der Bruder dem gemordeten Bruder schuldet. Sie können pba_608.017 den festen, klaren Entschluß nicht aufheben, aber sie nehmen ihm die pba_608.018 Bitterkeit: in der erhabenen Ruhe, mit der Don Cesar die Selbstopferung pba_608.019 beschließt, in der fast freudigen Verklärung, in der er dazu schreitet, pba_608.020 liegt schon die Sühnung seiner That. Der Tod drückt nur das letzte pba_608.021 Siegel darauf.
pba_608.022 Jn grandioser Einfachheit ertönen in dem Schlußgesang des Chors pba_608.023 wieder die beiden tragischen Grundempfindungen, beide nun zu einem pba_608.024 einzigen, untrennbaren, reinen Klange verschmolzen:
pba_608.025
Erschüttert steh' ich, weiß nicht, ob ich ihnpba_608.026 Bejammern, oder preisen soll sein Los.pba_608.027 Dies eine fühl' ich und erkenn' es klar:pba_608.028 Das Leben ist der Güter höchstes nicht,pba_608.029 Der Übel größtes aber ist die Schuld.
pba_608.030 Der müßte diese Tragödie schlecht verstanden, noch weniger aber pba_608.031 sie empfunden haben, der hier bei dem Worte der Schuld an das pba_608.032 Verbrechen denken wollte, das seine Strafe gefunden hat: der nicht vielmehr pba_608.033 empfände, wie in diesem einen Worte sich die Gesamtbezeichnung pba_608.034 für die ganze Last zusammendrängt, mit der Schwäche, Verfehlung und pba_608.035 Verwirrnis der Seele auf das menschliche Leben drückt, für alle jene pba_608.036 tausendfachen Gespinste, aus denen in dem Gewebe des Schicksals sich pba_608.037 der überall durchgehende Faden des Unheils zusammenschlingt. Unbehindert pba_608.038 bleibt keiner von diesen verhängnisvollen Fäden: wohl dem, pba_608.039 um den das Schicksal sie nicht so gefahrbringend durchkreuzt hat, daß
pba_608.001 Dem strengen Gesetz der Furchtempfindung ist volles Genüge geschehen: pba_608.002 aber nicht mit dem Eindruck starrer Gesetzlichkeit darf uns die pba_608.003 Tragödie entlassen. Mit der wunderbar schmelzenden Kraft der reinen pba_608.004 Schönheit machen die letzten Scenen den reichen Quell des Mitleids pba_608.005 fließen, das von der Furcht geläutert, ihr innig vermählt, nicht pba_608.006 länger als der „trübe Strom des Jammers“ wild daherrauscht, sondern pba_608.007 das von selbst sein rechtes Bette findet, in welchem es tief und ruhig pba_608.008 strömend sich ergießt. Jn diesen wundervollen Scenen tritt die reine pba_608.009 Schönheit uns entgegen, denn hier haben alle handelnden Personen pba_608.010 die echte und rechte Katharsis schon in sich erfahren, was sie sprechen und pba_608.011 thun, ist das Ergebnis dieser im tiefsten Jnnern durchlebten Läuterung, pba_608.012 Reinigung, Entsühnung. Hier endlich sind die Leidenschaften ausgeglichen, pba_608.013 und nur die sanfte Stimme reiner, edler Menschlichkeit läßt sich pba_608.014 vernehmen. Doch das rührende Flehen der versöhnten Mutter, die ergreifende pba_608.015 Bitte der liebenden Schwester vermögen das Opfer nicht aufzuhalten, pba_608.016 das der Bruder dem gemordeten Bruder schuldet. Sie können pba_608.017 den festen, klaren Entschluß nicht aufheben, aber sie nehmen ihm die pba_608.018 Bitterkeit: in der erhabenen Ruhe, mit der Don Cesar die Selbstopferung pba_608.019 beschließt, in der fast freudigen Verklärung, in der er dazu schreitet, pba_608.020 liegt schon die Sühnung seiner That. Der Tod drückt nur das letzte pba_608.021 Siegel darauf.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 608. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/626>, abgerufen am 22.11.2024.
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