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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Tragödie: "Jn der griechischen Tragödie zeigt sich der Chor in vier pba_611.002
Epochen."

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"Jn der ersten treten zwischen dem Gesang, in welchem Götter pba_611.004
und Helden erhoben, Genealogien, große Thaten, ungeheure Schicksale pba_611.005
vor die Phantasie gebracht werden, wenige Personen auf und rufen pba_611.006
das Vergangene in die Gegenwart. Hiervon findet sich ein annäherndes pba_611.007
Beispiel in den "Sieben vor Theben", von Äschylus. Dieses pba_611.008
wären also die Anfänge der dramatischen Kunst, der alte Stil."

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"Die zweite Epoche zeigt uns die Masse des Chors als mystische pba_611.010
Hauptperson des Stückes; wie in den "Eumeniden" und "Bittenden". pba_611.011
Hier bin ich geneigt, den hohen Stil zu finden. Der Chor ist selbständig, pba_611.012
auf ihm ruht das Jnteresse, es ist, möchte man sagen, die republikanische pba_611.013
Zeit der dramatischen Kunst, die Herrscher und Götter sind pba_611.014
nur begleitende Personen."

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"Jn der dritten Epoche wird der Chor begleitend, das Jnteresse pba_611.016
wirft sich auf die Familien und ihre jedesmaligen Glieder und Häupter, pba_611.017
mit deren Schicksalen das Schicksal des umgebenden Volks nur lose pba_611.018
verbunden ist. Der Chor ist untergeordnet, und die Figuren der Fürsten pba_611.019
und Helden treten in ihrer abgeschlossenen Herrlichkeit hervor. Hier pba_611.020
möchte ich den schönen Stil finden. Die Stücke des Sophokles stehen pba_611.021
auf dieser Stufe. (Hierzu wäre freilich zu bemerken, daß in der Mehrzahl pba_611.022
der uns erhaltenen Stücke auch Äschylus sich auf dieser Stufe pba_611.023
zeigt, was wohl auch von Goethe nicht anders angesehen sein wird.) pba_611.024
Jndem die Menge dem Helden und dem Schicksal nur zusehen muß, pba_611.025
und weder gegen die besondere noch allgemeine Natur etwas wirken pba_611.026
kann, wirft sie sich auf die Reflexion und übernimmt das Amt eines pba_611.027
berufenen und willkommenen Zuschauers."

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"Jn der vierten Epoche zieht sich die Handlung immer mehr ins pba_611.029
Privatinteresse zurück, der Chor erscheint oft als ein lästiges Herkommen, pba_611.030
als ein aufgeerbtes Jnventarienstück. Er wird unnötig und also, in pba_611.031
einem lebendigen poetischen Ganzen, gleich unnütz, lästig und zerstörend, pba_611.032
z. B. wenn er Geheimnisse bewahren soll, an denen er kein Jnteresse hat pba_611.033
und dergl. Mehrere Beispiele finden sich in den Stücken des Euripides, pba_611.034
wovon ich "Helena" und "Jphigenia auf Tauris" nenne."

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Die "Eumeniden" sind von Goethe selbst als der zweiten Gattung pba_611.036
des "hohen Stiles" zugehörig bezeichnet worden, die "Choephoren" dagegen pba_611.037
gehören wie die "Elektra" des Sophokles der dritten, der des pba_611.038
"schönen Stiles" an; in der "Elektra" des Euripides ist der Chor ein pba_611.039
gerade so überflüssiges "Jnventarienstück", wie in den von Goethe angeführten pba_611.040
Tragödien.

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Tragödie: „Jn der griechischen Tragödie zeigt sich der Chor in vier pba_611.002
Epochen.“

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„Jn der ersten treten zwischen dem Gesang, in welchem Götter pba_611.004
und Helden erhoben, Genealogien, große Thaten, ungeheure Schicksale pba_611.005
vor die Phantasie gebracht werden, wenige Personen auf und rufen pba_611.006
das Vergangene in die Gegenwart. Hiervon findet sich ein annäherndes pba_611.007
Beispiel in den „Sieben vor Theben“, von Äschylus. Dieses pba_611.008
wären also die Anfänge der dramatischen Kunst, der alte Stil.“

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„Die zweite Epoche zeigt uns die Masse des Chors als mystische pba_611.010
Hauptperson des Stückes; wie in den „Eumeniden“ und „Bittenden“. pba_611.011
Hier bin ich geneigt, den hohen Stil zu finden. Der Chor ist selbständig, pba_611.012
auf ihm ruht das Jnteresse, es ist, möchte man sagen, die republikanische pba_611.013
Zeit der dramatischen Kunst, die Herrscher und Götter sind pba_611.014
nur begleitende Personen.“

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„Jn der dritten Epoche wird der Chor begleitend, das Jnteresse pba_611.016
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mit deren Schicksalen das Schicksal des umgebenden Volks nur lose pba_611.018
verbunden ist. Der Chor ist untergeordnet, und die Figuren der Fürsten pba_611.019
und Helden treten in ihrer abgeschlossenen Herrlichkeit hervor. Hier pba_611.020
möchte ich den schönen Stil finden. Die Stücke des Sophokles stehen pba_611.021
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und weder gegen die besondere noch allgemeine Natur etwas wirken pba_611.026
kann, wirft sie sich auf die Reflexion und übernimmt das Amt eines pba_611.027
berufenen und willkommenen Zuschauers.“

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„Jn der vierten Epoche zieht sich die Handlung immer mehr ins pba_611.029
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als ein aufgeerbtes Jnventarienstück. Er wird unnötig und also, in pba_611.031
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z. B. wenn er Geheimnisse bewahren soll, an denen er kein Jnteresse hat pba_611.033
und dergl. Mehrere Beispiele finden sich in den Stücken des Euripides, pba_611.034
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Die „Eumeniden“ sind von Goethe selbst als der zweiten Gattung pba_611.036
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gehören wie die „Elektra“ des Sophokles der dritten, der des pba_611.038
„schönen Stiles“ an; in der „Elektra“ des Euripides ist der Chor ein pba_611.039
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[611/0629] pba_611.001 Tragödie: „Jn der griechischen Tragödie zeigt sich der Chor in vier pba_611.002 Epochen.“ pba_611.003 „Jn der ersten treten zwischen dem Gesang, in welchem Götter pba_611.004 und Helden erhoben, Genealogien, große Thaten, ungeheure Schicksale pba_611.005 vor die Phantasie gebracht werden, wenige Personen auf und rufen pba_611.006 das Vergangene in die Gegenwart. Hiervon findet sich ein annäherndes pba_611.007 Beispiel in den „Sieben vor Theben“, von Äschylus. Dieses pba_611.008 wären also die Anfänge der dramatischen Kunst, der alte Stil.“ pba_611.009 „Die zweite Epoche zeigt uns die Masse des Chors als mystische pba_611.010 Hauptperson des Stückes; wie in den „Eumeniden“ und „Bittenden“. pba_611.011 Hier bin ich geneigt, den hohen Stil zu finden. Der Chor ist selbständig, pba_611.012 auf ihm ruht das Jnteresse, es ist, möchte man sagen, die republikanische pba_611.013 Zeit der dramatischen Kunst, die Herrscher und Götter sind pba_611.014 nur begleitende Personen.“ pba_611.015 „Jn der dritten Epoche wird der Chor begleitend, das Jnteresse pba_611.016 wirft sich auf die Familien und ihre jedesmaligen Glieder und Häupter, pba_611.017 mit deren Schicksalen das Schicksal des umgebenden Volks nur lose pba_611.018 verbunden ist. Der Chor ist untergeordnet, und die Figuren der Fürsten pba_611.019 und Helden treten in ihrer abgeschlossenen Herrlichkeit hervor. Hier pba_611.020 möchte ich den schönen Stil finden. Die Stücke des Sophokles stehen pba_611.021 auf dieser Stufe. (Hierzu wäre freilich zu bemerken, daß in der Mehrzahl pba_611.022 der uns erhaltenen Stücke auch Äschylus sich auf dieser Stufe pba_611.023 zeigt, was wohl auch von Goethe nicht anders angesehen sein wird.) pba_611.024 Jndem die Menge dem Helden und dem Schicksal nur zusehen muß, pba_611.025 und weder gegen die besondere noch allgemeine Natur etwas wirken pba_611.026 kann, wirft sie sich auf die Reflexion und übernimmt das Amt eines pba_611.027 berufenen und willkommenen Zuschauers.“ pba_611.028 „Jn der vierten Epoche zieht sich die Handlung immer mehr ins pba_611.029 Privatinteresse zurück, der Chor erscheint oft als ein lästiges Herkommen, pba_611.030 als ein aufgeerbtes Jnventarienstück. Er wird unnötig und also, in pba_611.031 einem lebendigen poetischen Ganzen, gleich unnütz, lästig und zerstörend, pba_611.032 z. B. wenn er Geheimnisse bewahren soll, an denen er kein Jnteresse hat pba_611.033 und dergl. Mehrere Beispiele finden sich in den Stücken des Euripides, pba_611.034 wovon ich „Helena“ und „Jphigenia auf Tauris“ nenne.“ pba_611.035 Die „Eumeniden“ sind von Goethe selbst als der zweiten Gattung pba_611.036 des „hohen Stiles“ zugehörig bezeichnet worden, die „Choephoren“ dagegen pba_611.037 gehören wie die „Elektra“ des Sophokles der dritten, der des pba_611.038 „schönen Stiles“ an; in der „Elektra“ des Euripides ist der Chor ein pba_611.039 gerade so überflüssiges „Jnventarienstück“, wie in den von Goethe angeführten pba_611.040 Tragödien.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 611. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/629>, abgerufen am 22.11.2024.