pba_634.001 und das ist die herkömmliche Auffassung dieser Tragödie --, daß die pba_634.002 Tragik des Stückes in der Ausführung der furchtbaren Rachethat, die pba_634.003 das Schicksal den Kindern auflegt, beruhe, und daß die Rechtfertigung pba_634.004 der That in der fleckenlosen Reinheit der Gesinnung gegeben sein solle, pba_634.005 die Elektra gewissermaßen zu der Seele der rächenden Sühnung macht, pba_634.006 ihr fast die gleiche Stellung zuweist, die der treibende Wille Apollons pba_634.007 in des Äschylus Choephoren einnimmt. Aus eben dem Grunde hätte pba_634.008 er Orestes, der seine Hand mit der Ausführung des Mordes beflecken pba_634.009 muß, zurücktreten lassen und Elektra, gleichsam als die hohe, reine pba_634.010 Priesterin der Nemesis, zur Heldin seiner Dichtung erwählt.
pba_634.011 Jn einer solchen Auffassung läge nichts Falsches; dennoch müßte pba_634.012 sie zum Mißverständnis des Meisterwerkes führen, weil sie nur die eine pba_634.013 Hälfte der Wahrheit enthielte und mit der Unterdrückung der zweiten, pba_634.014 höchst wesentlichen, die Erkenntnis des eigentlichen Zieles der tragischen pba_634.015 Wirkung unmöglich machte.
pba_634.016 Es ist leicht zu erkennen, wie der Dichter die höchste Kunst angewendet pba_634.017 hat, um alle erdenkbaren Motive zur Erklärung und zur pba_634.018 Rechtfertigung der That, auf deren Vollziehung Elektras ganzes Sinnen pba_634.019 gerichtet ist, zu vereinigen. Gewiß ist er darin siegreich. Trotzdem ist pba_634.020 es ihm nicht gelungen, das Gefühl heftigen Widerstrebens zu überwinden, pba_634.021 mit dem wir auf die diamantharte Unversöhnlichkeit der Tochter pba_634.022 blicken, welche die Abschlachtung der Mutter mit dem Frohlocken des pba_634.023 befriedigten Gerechtigkeitssinnes begleitet! Nicht für unser modernes pba_634.024 Gefühl ist ihm das gelungen; daß aber die Empfindungsweise der Alten pba_634.025 in diesem für die Beurteilung der Sache wesentlichsten Punkte der unsern pba_634.026 durchaus verwandt war, dafür zeugt die großartige Vertiefung, die pba_634.027 Äschylus der Lösung der Frage zu geben für erforderlich hielt.
pba_634.028 Nicht das moderne, sondern das menschliche Gefühl muß durch pba_634.029 die Elektra des Sophokles tief verletzt werden, sobald man sie in der pba_634.030 angegebenen Weise auffaßt; daran kann kein Zweifel sein. Aber rätlich pba_634.031 dürfte es erscheinen, ehe man der Größten einem auch nur in dem einen pba_634.032 Falle den Mißerfolg seiner Absicht vorwirft, zu zweifeln, ob man denn pba_634.033 auch seine Absicht recht erkannt habe.
pba_634.034 Selbst die Art, wie einer der besten Kenner und feinsten Beurteiler pba_634.035 des Altertums über den Gegenstand ins reine zu kommen sucht, pba_634.036 kann unmöglich befriedigen. Otto Jahn zieht in der schönen Abhandlung pba_634.037 über "Goethes Jphigenie auf Tauris"1 neben der Orestie des
1pba_634.038 S. O. Jahn, "Populäre Aufsätze aus der Altertumswissenschaft" (Bonn 1868). pba_634.039 S. 376 ff.
pba_634.001 und das ist die herkömmliche Auffassung dieser Tragödie —, daß die pba_634.002 Tragik des Stückes in der Ausführung der furchtbaren Rachethat, die pba_634.003 das Schicksal den Kindern auflegt, beruhe, und daß die Rechtfertigung pba_634.004 der That in der fleckenlosen Reinheit der Gesinnung gegeben sein solle, pba_634.005 die Elektra gewissermaßen zu der Seele der rächenden Sühnung macht, pba_634.006 ihr fast die gleiche Stellung zuweist, die der treibende Wille Apollons pba_634.007 in des Äschylus Choephoren einnimmt. Aus eben dem Grunde hätte pba_634.008 er Orestes, der seine Hand mit der Ausführung des Mordes beflecken pba_634.009 muß, zurücktreten lassen und Elektra, gleichsam als die hohe, reine pba_634.010 Priesterin der Nemesis, zur Heldin seiner Dichtung erwählt.
pba_634.011 Jn einer solchen Auffassung läge nichts Falsches; dennoch müßte pba_634.012 sie zum Mißverständnis des Meisterwerkes führen, weil sie nur die eine pba_634.013 Hälfte der Wahrheit enthielte und mit der Unterdrückung der zweiten, pba_634.014 höchst wesentlichen, die Erkenntnis des eigentlichen Zieles der tragischen pba_634.015 Wirkung unmöglich machte.
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pba_634.028 Nicht das moderne, sondern das menschliche Gefühl muß durch pba_634.029 die Elektra des Sophokles tief verletzt werden, sobald man sie in der pba_634.030 angegebenen Weise auffaßt; daran kann kein Zweifel sein. Aber rätlich pba_634.031 dürfte es erscheinen, ehe man der Größten einem auch nur in dem einen pba_634.032 Falle den Mißerfolg seiner Absicht vorwirft, zu zweifeln, ob man denn pba_634.033 auch seine Absicht recht erkannt habe.
pba_634.034 Selbst die Art, wie einer der besten Kenner und feinsten Beurteiler pba_634.035 des Altertums über den Gegenstand ins reine zu kommen sucht, pba_634.036 kann unmöglich befriedigen. Otto Jahn zieht in der schönen Abhandlung pba_634.037 über „Goethes Jphigenie auf Tauris“1 neben der Orestie des
1pba_634.038 S. O. Jahn, „Populäre Aufsätze aus der Altertumswissenschaft“ (Bonn 1868). pba_634.039 S. 376 ff.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/652>, abgerufen am 31.10.2024.
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