pba_658.001 verwirrend überwältigt, so daß er überall fehlgehend, statt selbst zu pba_658.002 handeln ein blindes Werkzeug in der Hand des Schicksals wird, das in pba_658.003 seinem mächtigen Getriebe mit Schuldigen und Unschuldigen auch ihn pba_658.004 zermalmend erfaßt.
pba_658.005 Wie es dieser ganzen Betrachtung vorangestellt wurde: das Problem pba_658.006 ist an sich selbst ein unlösbares! Hat der Einzelne unter Umständen, pba_658.007 die es gebieterisch zu erfordern scheinen, die Pflicht das verletzte pba_658.008 Recht durch blutige That herzustellen sogar gegenüber den nächsten pba_658.009 Blutsverwandten? Die antike Auffassung neigt sich der Bejahung der pba_658.010 Frage zu, die moderne eher der Verneinung; eine bedingungslosepba_658.011 Entscheidung trifft weder die eine noch die andere. Darin aber stimmen pba_658.012 beide überein in solchen Schicksalsverkettungen eine hohe Tragik zu erkennen. pba_658.013 Das Altertum zeigte die Tragik des rücksichtslos zur sühnenden pba_658.014 Rache vordringenden Ethos, Shakespeare führt die Tragik des Zurückweichens pba_658.015 vor dem durch die Notwendigkeit auferlegten Blutrichteramt pba_658.016 vor Augen; beide, indem sie die verhängnisvolle Hamartie ihrer Helden pba_658.017 aus dem besten Teil ihrer Seele herleiten; beide also indem sie ebenmäßig pba_658.018 mit dem Mitleid die Furcht erwecken und so den Zweck der pba_658.019 Tragödie, die Katharsis beider Empfindungen, in vollkommener Weise pba_658.020 erreichen: des echten Mitleids um das Leiden großer und edler Menschen, pba_658.021 die durch menschliches Jrren schwerem Geschick verfallen, und pba_658.022 der echten Furcht, da wir in dem Leiden und Untergang der Guten pba_658.023 und Besten den strengen Ernst und die unentrinnbare Macht des alles pba_658.024 beherrschenden Schicksals scheuen und verehren.
pba_658.025 Am meisten ergreifen uns, nach dem Geiste unserer Zeit, diese pba_658.026 echte Furcht und dieses echte Mitleid, wenn wir die Verwickelungpba_658.027 der Handlung erst durch ihr Zusammentreffen mit der Eigenart des pba_658.028 Charakters des Helden die entscheidende tragische Wendung erhalten pba_658.029 sehen, wie bei Shakespeare, in der verwickelt-ethischen Tragödie:pba_658.030 mit klarerem Bewußtsein thun wir hier den tiefen Blick in das Wesen pba_658.031 des rätselvollen Schicksals. Die moderne Tragödie ist durch die Abwesenheit pba_658.032 des Chors in ihrem Bau vorzugsweise, wenn nicht ausschließlich pba_658.033 auf die breiteste Entwickelung des ethischen Momentes gewiesen. pba_658.034 Wenn die Alten durch die weisheitsvoll mahnende, tief bewegende pba_658.035 Stimme des Chors den überwältigenden Schmerz um das Leiden, das pba_658.036 Grausen vor dem Verhängnis zu der Reinheit von Furcht und Mitleid pba_658.037 läutern, so durch ihre Tragödie die Katharsis aller in den pba_658.038 Menschen vorhandenen, diesem Gebiet angehörigen Gesinnungen pba_658.039 und Empfindungen bewirkend, so hat Shakespeare, der pba_658.040 Meister der verwickelt-ethischen Tragödie, den Weg gewiesen, dasselbe
pba_658.001 verwirrend überwältigt, so daß er überall fehlgehend, statt selbst zu pba_658.002 handeln ein blindes Werkzeug in der Hand des Schicksals wird, das in pba_658.003 seinem mächtigen Getriebe mit Schuldigen und Unschuldigen auch ihn pba_658.004 zermalmend erfaßt.
pba_658.005 Wie es dieser ganzen Betrachtung vorangestellt wurde: das Problem pba_658.006 ist an sich selbst ein unlösbares! Hat der Einzelne unter Umständen, pba_658.007 die es gebieterisch zu erfordern scheinen, die Pflicht das verletzte pba_658.008 Recht durch blutige That herzustellen sogar gegenüber den nächsten pba_658.009 Blutsverwandten? Die antike Auffassung neigt sich der Bejahung der pba_658.010 Frage zu, die moderne eher der Verneinung; eine bedingungslosepba_658.011 Entscheidung trifft weder die eine noch die andere. Darin aber stimmen pba_658.012 beide überein in solchen Schicksalsverkettungen eine hohe Tragik zu erkennen. pba_658.013 Das Altertum zeigte die Tragik des rücksichtslos zur sühnenden pba_658.014 Rache vordringenden Ethos, Shakespeare führt die Tragik des Zurückweichens pba_658.015 vor dem durch die Notwendigkeit auferlegten Blutrichteramt pba_658.016 vor Augen; beide, indem sie die verhängnisvolle Hamartie ihrer Helden pba_658.017 aus dem besten Teil ihrer Seele herleiten; beide also indem sie ebenmäßig pba_658.018 mit dem Mitleid die Furcht erwecken und so den Zweck der pba_658.019 Tragödie, die Katharsis beider Empfindungen, in vollkommener Weise pba_658.020 erreichen: des echten Mitleids um das Leiden großer und edler Menschen, pba_658.021 die durch menschliches Jrren schwerem Geschick verfallen, und pba_658.022 der echten Furcht, da wir in dem Leiden und Untergang der Guten pba_658.023 und Besten den strengen Ernst und die unentrinnbare Macht des alles pba_658.024 beherrschenden Schicksals scheuen und verehren.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 658. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/676>, abgerufen am 22.11.2024.
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