pba_662.001 jener Partien der Poetik vor uns haben, deren Verlust mit pba_662.002 Recht so tief beklagt wird.
pba_662.003 Die Sätze lauten: e tragodia uphairei ta phobera pathemata pba_662.004 tes psukhes di oiktou, kai oti summetrian thelei ekhein tou phobou. pba_662.005 ekhei de metera ten lupen. Also im unbeholfensten Excerptenstil: pba_662.006 "Die Tragödie enthebt die Seele der fürchterlichen Affekte vermittelst pba_662.007 der schmerzlichen Rührung, und weil sie ein Ebenmaß der Furchtpba_662.008 haben will. Zur Mutter aber hat sie die Trauer."
pba_662.009 Bernays wird mit diesen inhaltschweren Sätzen sehr leicht fertig. pba_662.010 Er sagt: "Das erste Sätzchen: ,die Tragödie hebt die Furchtempfindung pba_662.011 durch Mitleid auf' zeigt, daß schon vor Lessing jemand die tragische pba_662.012 Katharsis des Mitleids und der Furcht für eine wechselseitige, pba_662.013 der Furcht durch das Mitleid und umgekehrt, genommen pba_662.014 hatte. Aristoteles wollte sicherlich nicht so mißverstanden pba_662.015 sein, und wer Lessing auch da wo er irre geht zum Führer nimmt, pba_662.016 darf doch dieses Sätzchen wenigstens nicht als eine alte, etwa auf eigenen pba_662.017 für uns verlorenen Äußerungen des Aristoteles fußende Autorität geltend pba_662.018 machen. Denn es verrät nur zu deutlich den auf seinen Kopf angewiesenen pba_662.019 Scholiasten. Das uphairei gibt sich als eine Umschreibung pba_662.020 für die vielgedeutete, bisher unerledigte Katharsis pba_662.021 zu erkennen -- (ein unglaubliches Argument! Anstatt also es als pba_662.022 eine solche Umschreibung mit Freuden zu begrüßen, erklärt es Bernays pba_662.023 aus eben dem Grunde, weil es das erfüllt, was man von ihm pba_662.024 erwarten muß, für ein Anzeichen des unaristotelischen Ursprungs der pba_662.025 ganzen Stelle!) --, und während Aristoteles immer nur vom tragischen pba_662.026 Eleos redet, hielt der Spätling mit der feierlichen Tragödie nur den pba_662.027 ebenfalls feierlichen oiktos verträglich."
pba_662.028 Als einziges Verdachtsmoment bleibt also übrig, daß der Excerptor pba_662.029 oiktos statt eleos schreibt, "schmerzliche Rührung" statt "Mitleid". pba_662.030 Nichts könnte aber besser die Vermutung bestätigen, daß die fraglichen pba_662.031 Worte aus der aristotelischen Erklärung der tragischen Katharsis herausgegriffen pba_662.032 sind. Der reine "Phobos" und der reine "Eleos" -- die pba_662.033 richtigen, reinen Furcht- und Mitleidempfindungen -- sind das pba_662.034 Resultat der Katharsis; das Objekt dagegen, an dem sie sich vollzieht, pba_662.035 sind gerade die von dem Excerptor genannten "Pathemata", pba_662.036 also "die fürchterlichen Affekte", die übermäßigen Furchtempfindungen pba_662.037 (uperbolai tou phobou). Diesen stellt die Komposition des tragischen pba_662.038 Kunstwerks ebenso die "Pathemata" des "Eleos" entgegen, die wir pba_662.039 im Deutschen unter dem Namen der schmerzlichen Mitleidsäußerungen,pba_662.040 also der "Rührung" in ihrer Gesamtheit bezeichnen.
pba_662.001 jener Partien der Poetik vor uns haben, deren Verlust mit pba_662.002 Recht so tief beklagt wird.
pba_662.003 Die Sätze lauten: ἡ τραγῳδία ὑφαιρεῖ τὰ φοβερὰ παθήματα pba_662.004 τῆς ψυχῆς δἰ οἴκτου, καὶ ὅτι συμμετρίαν θέλει ἔχειν τοῦ φόβου. pba_662.005 ἔχει δὲ μητέρα τὴν λύπην. Also im unbeholfensten Excerptenstil: pba_662.006 „Die Tragödie enthebt die Seele der fürchterlichen Affekte vermittelst pba_662.007 der schmerzlichen Rührung, und weil sie ein Ebenmaß der Furchtpba_662.008 haben will. Zur Mutter aber hat sie die Trauer.“
pba_662.009 Bernays wird mit diesen inhaltschweren Sätzen sehr leicht fertig. pba_662.010 Er sagt: „Das erste Sätzchen: ‚die Tragödie hebt die Furchtempfindung pba_662.011 durch Mitleid auf‘ zeigt, daß schon vor Lessing jemand die tragische pba_662.012 Katharsis des Mitleids und der Furcht für eine wechselseitige, pba_662.013 der Furcht durch das Mitleid und umgekehrt, genommen pba_662.014 hatte. Aristoteles wollte sicherlich nicht so mißverstanden pba_662.015 sein, und wer Lessing auch da wo er irre geht zum Führer nimmt, pba_662.016 darf doch dieses Sätzchen wenigstens nicht als eine alte, etwa auf eigenen pba_662.017 für uns verlorenen Äußerungen des Aristoteles fußende Autorität geltend pba_662.018 machen. Denn es verrät nur zu deutlich den auf seinen Kopf angewiesenen pba_662.019 Scholiasten. Das ὑφαιρεῖ gibt sich als eine Umschreibung pba_662.020 für die vielgedeutete, bisher unerledigte Katharsis pba_662.021 zu erkennen — (ein unglaubliches Argument! Anstatt also es als pba_662.022 eine solche Umschreibung mit Freuden zu begrüßen, erklärt es Bernays pba_662.023 aus eben dem Grunde, weil es das erfüllt, was man von ihm pba_662.024 erwarten muß, für ein Anzeichen des unaristotelischen Ursprungs der pba_662.025 ganzen Stelle!) —, und während Aristoteles immer nur vom tragischen pba_662.026 Eleos redet, hielt der Spätling mit der feierlichen Tragödie nur den pba_662.027 ebenfalls feierlichen οἶκτος verträglich.“
pba_662.028 Als einziges Verdachtsmoment bleibt also übrig, daß der Excerptor pba_662.029 οἶκτος statt ἔλεος schreibt, „schmerzliche Rührung“ statt „Mitleid“. pba_662.030 Nichts könnte aber besser die Vermutung bestätigen, daß die fraglichen pba_662.031 Worte aus der aristotelischen Erklärung der tragischen Katharsis herausgegriffen pba_662.032 sind. Der reine „Phobos“ und der reine „Eleos“ — die pba_662.033 richtigen, reinen Furcht- und Mitleidempfindungen — sind das pba_662.034 Resultat der Katharsis; das Objekt dagegen, an dem sie sich vollzieht, pba_662.035 sind gerade die von dem Excerptor genannten „Pathemata“, pba_662.036 also „die fürchterlichen Affekte“, die übermäßigen Furchtempfindungen pba_662.037 (ὑπερβολαὶ τοῦ φόβου). Diesen stellt die Komposition des tragischen pba_662.038 Kunstwerks ebenso die „Pathemata“ des „Eleos“ entgegen, die wir pba_662.039 im Deutschen unter dem Namen der schmerzlichen Mitleidsäußerungen,pba_662.040 also der „Rührung“ in ihrer Gesamtheit bezeichnen.
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[662/0680]
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jener Partien der Poetik vor uns haben, deren Verlust mit pba_662.002
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pba_662.003
Die Sätze lauten: ἡ τραγῳδία ὑφαιρεῖ τὰ φοβερὰ παθήματα pba_662.004
τῆς ψυχῆς δἰ οἴκτου, καὶ ὅτι συμμετρίαν θέλει ἔχειν τοῦ φόβου. pba_662.005
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haben will. Zur Mutter aber hat sie die Trauer.“
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Bernays wird mit diesen inhaltschweren Sätzen sehr leicht fertig. pba_662.010
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 662. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/680>, abgerufen am 31.10.2024.
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