Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_682.001 pba_682.003 pba_682.015 1 pba_682.029
Es mag hier ein Verbesserungsvorschlag für das von Aristoteles von dieser pba_682.030 Art des Wortwitzes gegebene Beispiel seine Stelle finden, der, wie es scheint, nur ausgesprochen pba_682.031 werden darf, um sich zu empfehlen. Theodorus sagt zu dem Zitherspieler pba_682.032 Nikon "thrattei se", "er stört dich". Dann heißt es weiter: "er thut nämlich so, pba_682.033 als ob er ,thrattei se' sagen wollte, und täuscht ihn, indem er etwas anderes sagt." pba_682.034 Das Witzige des Wortes soll darin liegen, daß Nikon "ein Thracier" genannt wird, pba_682.035 denn er war der Sohn einer thracischen Sklavin. Der Text hat in dieser Gestalt pba_682.036 keinen Sinn, denn einmal läßt er den Theodorus gar nichts anderes sagen, als pba_682.037 das, dessen Erwartung er erregen will, sodann ist die witzige Anspielung darin nicht pba_682.038 erkennbar. Offenbar hat Aristoteles das Futurum von thrasso geschrieben, pba_682.039 und Theodorus hat erwarten lassen: "thraxei se" und gesagt: "Thrax eis", oder pba_682.040 vielleicht auch: "Thrax ei su." pba_682.001 pba_682.003 pba_682.015 1 pba_682.029
Es mag hier ein Verbesserungsvorschlag für das von Aristoteles von dieser pba_682.030 Art des Wortwitzes gegebene Beispiel seine Stelle finden, der, wie es scheint, nur ausgesprochen pba_682.031 werden darf, um sich zu empfehlen. Theodorus sagt zu dem Zitherspieler pba_682.032 Nikon „θράττει σε“, „er stört dich“. Dann heißt es weiter: „er thut nämlich so, pba_682.033 als ob er ‚θράττει σε‘ sagen wollte, und täuscht ihn, indem er etwas anderes sagt.“ pba_682.034 Das Witzige des Wortes soll darin liegen, daß Nikon „ein Thracier“ genannt wird, pba_682.035 denn er war der Sohn einer thracischen Sklavin. Der Text hat in dieser Gestalt pba_682.036 keinen Sinn, denn einmal läßt er den Theodorus gar nichts anderes sagen, als pba_682.037 das, dessen Erwartung er erregen will, sodann ist die witzige Anspielung darin nicht pba_682.038 erkennbar. Offenbar hat Aristoteles das Futurum von θράσσω geschrieben, pba_682.039 und Theodorus hat erwarten lassen: „θράξει σε“ und gesagt: „Θρᾷξ εἶς“, oder pba_682.040 vielleicht auch: „Θρᾷξ εἶ σύ.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0700" n="682"/><lb n="pba_682.001"/> wenn andrerseits aber nach ihm alle Kunst auf Mimesis beruht, so <lb n="pba_682.002"/> ergeben sich die weiteren Schlüsse daraus von selbst.</p> <p><lb n="pba_682.003"/> Auch die <hi rendition="#g">komische Darstellung,</hi> die ja ein Kunstmittel ist, <lb n="pba_682.004"/> muß also auf diesem Grunde erwachsen. 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Natürlich liegt das <lb n="pba_682.026"/> eigentlich Lächerliche solcher witzigen Wendungen aller Art immer nur <lb n="pba_682.027"/> darin, daß durch die überraschende Täuschung ein in den vorhandenen <lb n="pba_682.028"/> Sach- und Personenumständen verborgenes Gebrechen in helles Licht </p> </div> </body> </text> </TEI> [682/0700]
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wenn andrerseits aber nach ihm alle Kunst auf Mimesis beruht, so pba_682.002
ergeben sich die weiteren Schlüsse daraus von selbst.
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Auch die komische Darstellung, die ja ein Kunstmittel ist, pba_682.004
muß also auf diesem Grunde erwachsen. Das geschieht nach Aristoteles, pba_682.005
indem zu jener metaphorischen, energisch anschaulichen und antithetischen pba_682.006
Darstellung nun noch das Moment der Täuschung sich hinzugesellt. pba_682.007
Die Seele wird gegenüber der sich offenbar gegensätzlich zur pba_682.008
Wahrheit verhaltenden Erscheinung in höherem Grade sich des Erkennens pba_682.009
bewußt und sagt gleichsam zu sich selber: „so liegt's in Wahrheit, ich pba_682.010
war im Jrrtum“ (s. 1412a 17: ἔστι δὲ καὶ τὰ ἀστεῖα τὰ πλεῖστα pba_682.011
διὰ μεταφορᾶς καὶ ἐκ τοῦ προςεξαπατᾶν = „und aus der pba_682.012
dazu kommenden Täuschung“. μᾶλλον γὰρ γίγνεται δῆλον ὅτι ἔμαθε pba_682.013
παρὰ τὸ ἐναντίως ἔχειν καὶ ἔοικε λέγειν ἡ ψυχὴ „ὡς ἀληθῶς, pba_682.014
ἐγὼ δ' ἥμαρτον“.)
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So wird das Fehlerhafte, dessen „unverhüllte“ Erscheinung ihr pba_682.016
Mißfallen erregt hätte, für sie ein Gegenstand des Wohlgefallens. Aus pba_682.017
demselben Grunde hat das leichten Aufschluß darbietende Rätselhafte pba_682.018
(εὖ ᾐνιγμένα) dieselbe Wirkung. Ebenso die Paradoxie (τὸ pba_682.019
παράδοξον) und die komische Verdrehung (ἐν τοῖς γελοίοις τὰ pba_682.020
παραπεποιημένα), desgleichen der spottende Wortwitz (τὰ παρὰ pba_682.021
γράμμα σκώμματα). 1 Man wird getäuscht, und empfindet die Täuschung, pba_682.022
die sonst widrig wäre, angenehm, weil sie ein neues Licht gibt. pba_682.023
Dasselbe findet statt, wenn ein Vers statt des erwarteten Wortes ein pba_682.024
ganz widersprechendes bringt: „So schritt er einher, an den Füßen — pba_682.025
die Beulen“, nicht: „die glänzenden Sohlen“. Natürlich liegt das pba_682.026
eigentlich Lächerliche solcher witzigen Wendungen aller Art immer nur pba_682.027
darin, daß durch die überraschende Täuschung ein in den vorhandenen pba_682.028
Sach- und Personenumständen verborgenes Gebrechen in helles Licht
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Es mag hier ein Verbesserungsvorschlag für das von Aristoteles von dieser pba_682.030
Art des Wortwitzes gegebene Beispiel seine Stelle finden, der, wie es scheint, nur ausgesprochen pba_682.031
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Das Witzige des Wortes soll darin liegen, daß Nikon „ein Thracier“ genannt wird, pba_682.035
denn er war der Sohn einer thracischen Sklavin. Der Text hat in dieser Gestalt pba_682.036
keinen Sinn, denn einmal läßt er den Theodorus gar nichts anderes sagen, als pba_682.037
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erkennbar. Offenbar hat Aristoteles das Futurum von θράσσω geschrieben, pba_682.039
und Theodorus hat erwarten lassen: „θράξει σε“ und gesagt: „Θρᾷξ εἶς“, oder pba_682.040
vielleicht auch: „Θρᾷξ εἶ σύ.“
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