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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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wenn andrerseits aber nach ihm alle Kunst auf Mimesis beruht, so pba_682.002
ergeben sich die weiteren Schlüsse daraus von selbst.

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Auch die komische Darstellung, die ja ein Kunstmittel ist, pba_682.004
muß also auf diesem Grunde erwachsen. Das geschieht nach Aristoteles, pba_682.005
indem zu jener metaphorischen, energisch anschaulichen und antithetischen pba_682.006
Darstellung nun noch das Moment der Täuschung sich hinzugesellt. pba_682.007
Die Seele wird gegenüber der sich offenbar gegensätzlich zur pba_682.008
Wahrheit verhaltenden Erscheinung in höherem Grade sich des Erkennens pba_682.009
bewußt und sagt gleichsam zu sich selber: "so liegt's in Wahrheit, ich pba_682.010
war im Jrrtum" (s. 1412a 17: esti de kai ta asteia ta pleista pba_682.011
dia metaphoras kai ek tou prosexapatan = "und aus der pba_682.012
dazu kommenden Täuschung". mallon gar gignetai delon oti emathe pba_682.013
para to enantios ekhein kai eoike legein e psukhe "os alethos, pba_682.014
ego d' emarton".)

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So wird das Fehlerhafte, dessen "unverhüllte" Erscheinung ihr pba_682.016
Mißfallen erregt hätte, für sie ein Gegenstand des Wohlgefallens. Aus pba_682.017
demselben Grunde hat das leichten Aufschluß darbietende Rätselhafte pba_682.018
(eu enigmena) dieselbe Wirkung. Ebenso die Paradoxie (to pba_682.019
paradoxon) und die komische Verdrehung (en tois geloiois ta pba_682.020
parapepoiemena), desgleichen der spottende Wortwitz (ta para pba_682.021
gramma skommata).1 Man wird getäuscht, und empfindet die Täuschung, pba_682.022
die sonst widrig wäre, angenehm, weil sie ein neues Licht gibt. pba_682.023
Dasselbe findet statt, wenn ein Vers statt des erwarteten Wortes ein pba_682.024
ganz widersprechendes bringt: "So schritt er einher, an den Füßen -- pba_682.025
die Beulen", nicht: "die glänzenden Sohlen". Natürlich liegt das pba_682.026
eigentlich Lächerliche solcher witzigen Wendungen aller Art immer nur pba_682.027
darin, daß durch die überraschende Täuschung ein in den vorhandenen pba_682.028
Sach- und Personenumständen verborgenes Gebrechen in helles Licht

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Es mag hier ein Verbesserungsvorschlag für das von Aristoteles von dieser pba_682.030
Art des Wortwitzes gegebene Beispiel seine Stelle finden, der, wie es scheint, nur ausgesprochen pba_682.031
werden darf, um sich zu empfehlen. Theodorus sagt zu dem Zitherspieler pba_682.032
Nikon "thrattei se", "er stört dich". Dann heißt es weiter: "er thut nämlich so, pba_682.033
als ob er ,thrattei se' sagen wollte, und täuscht ihn, indem er etwas anderes sagt." pba_682.034
Das Witzige des Wortes soll darin liegen, daß Nikon "ein Thracier" genannt wird, pba_682.035
denn er war der Sohn einer thracischen Sklavin. Der Text hat in dieser Gestalt pba_682.036
keinen Sinn, denn einmal läßt er den Theodorus gar nichts anderes sagen, als pba_682.037
das, dessen Erwartung er erregen will, sodann ist die witzige Anspielung darin nicht pba_682.038
erkennbar. Offenbar hat Aristoteles das Futurum von thrasso geschrieben, pba_682.039
und Theodorus hat erwarten lassen: "thraxei se" und gesagt: "Thrax eis", oder pba_682.040
vielleicht auch: "Thrax ei su."

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wenn andrerseits aber nach ihm alle Kunst auf Mimesis beruht, so pba_682.002
ergeben sich die weiteren Schlüsse daraus von selbst.

pba_682.003
Auch die komische Darstellung, die ja ein Kunstmittel ist, pba_682.004
muß also auf diesem Grunde erwachsen. Das geschieht nach Aristoteles, pba_682.005
indem zu jener metaphorischen, energisch anschaulichen und antithetischen pba_682.006
Darstellung nun noch das Moment der Täuschung sich hinzugesellt. pba_682.007
Die Seele wird gegenüber der sich offenbar gegensätzlich zur pba_682.008
Wahrheit verhaltenden Erscheinung in höherem Grade sich des Erkennens pba_682.009
bewußt und sagt gleichsam zu sich selber: „so liegt's in Wahrheit, ich pba_682.010
war im Jrrtum“ (s. 1412a 17: ἔστι δὲ καὶ τὰ ἀστεῖα τὰ πλεῖστα pba_682.011
διὰ μεταφορᾶς καὶ ἐκ τοῦ προςεξαπατᾶν = „und aus der pba_682.012
dazu kommenden Täuschung“. μᾶλλον γὰρ γίγνεται δῆλον ὅτι ἔμαθε pba_682.013
παρὰ τὸ ἐναντίως ἔχειν καὶ ἔοικε λέγειν ἡ ψυχὴ „ὡς ἀληθῶς, pba_682.014
ἐγὼ δ' ἥμαρτον“.)

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So wird das Fehlerhafte, dessen „unverhüllte“ Erscheinung ihr pba_682.016
Mißfallen erregt hätte, für sie ein Gegenstand des Wohlgefallens. Aus pba_682.017
demselben Grunde hat das leichten Aufschluß darbietende Rätselhafte pba_682.018
(εὖ ᾐνιγμένα) dieselbe Wirkung. Ebenso die Paradoxie (τὸ pba_682.019
παράδοξον) und die komische Verdrehung (ἐν τοῖς γελοίοις τὰ pba_682.020
παραπεποιημένα), desgleichen der spottende Wortwitz (τὰ παρὰ pba_682.021
γράμμα σκώμματα).1 Man wird getäuscht, und empfindet die Täuschung, pba_682.022
die sonst widrig wäre, angenehm, weil sie ein neues Licht gibt. pba_682.023
Dasselbe findet statt, wenn ein Vers statt des erwarteten Wortes ein pba_682.024
ganz widersprechendes bringt: „So schritt er einher, an den Füßen — pba_682.025
die Beulen“, nicht: „die glänzenden Sohlen“. Natürlich liegt das pba_682.026
eigentlich Lächerliche solcher witzigen Wendungen aller Art immer nur pba_682.027
darin, daß durch die überraschende Täuschung ein in den vorhandenen pba_682.028
Sach- und Personenumständen verborgenes Gebrechen in helles Licht

1 pba_682.029
Es mag hier ein Verbesserungsvorschlag für das von Aristoteles von dieser pba_682.030
Art des Wortwitzes gegebene Beispiel seine Stelle finden, der, wie es scheint, nur ausgesprochen pba_682.031
werden darf, um sich zu empfehlen. Theodorus sagt zu dem Zitherspieler pba_682.032
Nikon „θράττει σε“, „er stört dich“. Dann heißt es weiter: „er thut nämlich so, pba_682.033
als ob er ‚θράττει σε‘ sagen wollte, und täuscht ihn, indem er etwas anderes sagt.“ pba_682.034
Das Witzige des Wortes soll darin liegen, daß Nikon „ein Thracier“ genannt wird, pba_682.035
denn er war der Sohn einer thracischen Sklavin. Der Text hat in dieser Gestalt pba_682.036
keinen Sinn, denn einmal läßt er den Theodorus gar nichts anderes sagen, als pba_682.037
das, dessen Erwartung er erregen will, sodann ist die witzige Anspielung darin nicht pba_682.038
erkennbar. Offenbar hat Aristoteles das Futurum von θράσσω geschrieben, pba_682.039
und Theodorus hat erwarten lassen: „θράξει σε“ und gesagt: „Θρᾷξ εἶς“, oder pba_682.040
vielleicht auch: „Θρᾷξ εἶ σύ.“
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[682/0700] pba_682.001 wenn andrerseits aber nach ihm alle Kunst auf Mimesis beruht, so pba_682.002 ergeben sich die weiteren Schlüsse daraus von selbst. pba_682.003 Auch die komische Darstellung, die ja ein Kunstmittel ist, pba_682.004 muß also auf diesem Grunde erwachsen. Das geschieht nach Aristoteles, pba_682.005 indem zu jener metaphorischen, energisch anschaulichen und antithetischen pba_682.006 Darstellung nun noch das Moment der Täuschung sich hinzugesellt. pba_682.007 Die Seele wird gegenüber der sich offenbar gegensätzlich zur pba_682.008 Wahrheit verhaltenden Erscheinung in höherem Grade sich des Erkennens pba_682.009 bewußt und sagt gleichsam zu sich selber: „so liegt's in Wahrheit, ich pba_682.010 war im Jrrtum“ (s. 1412a 17: ἔστι δὲ καὶ τὰ ἀστεῖα τὰ πλεῖστα pba_682.011 διὰ μεταφορᾶς καὶ ἐκ τοῦ προςεξαπατᾶν = „und aus der pba_682.012 dazu kommenden Täuschung“. μᾶλλον γὰρ γίγνεται δῆλον ὅτι ἔμαθε pba_682.013 παρὰ τὸ ἐναντίως ἔχειν καὶ ἔοικε λέγειν ἡ ψυχὴ „ὡς ἀληθῶς, pba_682.014 ἐγὼ δ' ἥμαρτον“.) pba_682.015 So wird das Fehlerhafte, dessen „unverhüllte“ Erscheinung ihr pba_682.016 Mißfallen erregt hätte, für sie ein Gegenstand des Wohlgefallens. Aus pba_682.017 demselben Grunde hat das leichten Aufschluß darbietende Rätselhafte pba_682.018 (εὖ ᾐνιγμένα) dieselbe Wirkung. Ebenso die Paradoxie (τὸ pba_682.019 παράδοξον) und die komische Verdrehung (ἐν τοῖς γελοίοις τὰ pba_682.020 παραπεποιημένα), desgleichen der spottende Wortwitz (τὰ παρὰ pba_682.021 γράμμα σκώμματα). 1 Man wird getäuscht, und empfindet die Täuschung, pba_682.022 die sonst widrig wäre, angenehm, weil sie ein neues Licht gibt. pba_682.023 Dasselbe findet statt, wenn ein Vers statt des erwarteten Wortes ein pba_682.024 ganz widersprechendes bringt: „So schritt er einher, an den Füßen — pba_682.025 die Beulen“, nicht: „die glänzenden Sohlen“. Natürlich liegt das pba_682.026 eigentlich Lächerliche solcher witzigen Wendungen aller Art immer nur pba_682.027 darin, daß durch die überraschende Täuschung ein in den vorhandenen pba_682.028 Sach- und Personenumständen verborgenes Gebrechen in helles Licht 1 pba_682.029 Es mag hier ein Verbesserungsvorschlag für das von Aristoteles von dieser pba_682.030 Art des Wortwitzes gegebene Beispiel seine Stelle finden, der, wie es scheint, nur ausgesprochen pba_682.031 werden darf, um sich zu empfehlen. Theodorus sagt zu dem Zitherspieler pba_682.032 Nikon „θράττει σε“, „er stört dich“. Dann heißt es weiter: „er thut nämlich so, pba_682.033 als ob er ‚θράττει σε‘ sagen wollte, und täuscht ihn, indem er etwas anderes sagt.“ pba_682.034 Das Witzige des Wortes soll darin liegen, daß Nikon „ein Thracier“ genannt wird, pba_682.035 denn er war der Sohn einer thracischen Sklavin. Der Text hat in dieser Gestalt pba_682.036 keinen Sinn, denn einmal läßt er den Theodorus gar nichts anderes sagen, als pba_682.037 das, dessen Erwartung er erregen will, sodann ist die witzige Anspielung darin nicht pba_682.038 erkennbar. Offenbar hat Aristoteles das Futurum von θράσσω geschrieben, pba_682.039 und Theodorus hat erwarten lassen: „θράξει σε“ und gesagt: „Θρᾷξ εἶς“, oder pba_682.040 vielleicht auch: „Θρᾷξ εἶ σύ.“

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URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/700
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 682. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/700>, abgerufen am 31.10.2024.