pba_053.001 zusammengedrängt, zu vereinigen, alles andere ganz fortzuwerfen oder pba_053.002 höchstens durch ein Wort dem Hörer ins Gefühl zu rufen, bringt pba_053.003 er neben der ausgeführten Haupthandlung noch eine ganze Reihe von pba_053.004 Nebenhandlungen in nachdrücklich eingehendstem Vortrage vors Auge pba_053.005 und zerstreut damit das Jnteresse nach den verschiedensten Gesichtspunkten, pba_053.006 so daß in solchem Zusammenhange der breit moralisierende pba_053.007 Schluß freilich nichts Auffallendes mehr hat, so sehr er dem Wesen der pba_053.008 Ballade widerspricht.
pba_053.009 Auch die "Lenore" verdankt ihre weit hervorragende Stellung dem pba_053.010 vorwiegend lyrischen Stimmungscharakter und Sangeston des Ganzen, pba_053.011 dessen schattenhafte Vorgänge, ganz ohne eigentliche (innere) Handlung, pba_053.012 nur Seelenzustände zu vergegenwärtigen dienen sollen. Will man recht pba_053.013 klar erkennen, was das bedeutet, so vergleiche man mit diesen Gesängen pba_053.014 Stücke wie die "Entführung" ("Knapp', sattle mir mein Dänenroß") pba_053.015 oder "Des Pfarrers Tochter zu Taubenhain," oder "Das Lied von pba_053.016 Treue," in welchen in der That Handlung, und zwar um ihrer eigenen pba_053.017 epischen Bedeutung willen, bei dem letztgenannten vielleicht wegen der pba_053.018 anekdotenhaften Schlußwendung, nachgeahmt ist. Aber dennoch! wie pba_053.019 weit steht auch Bürgers "Lenore" von der alt-schottischen Ballade ab, pba_053.020 welche einen ähnlichen Jnhalt, die todbringende Gewalt bis ins Grab pba_053.021 getreuer Liebe, unendlich viel reiner, tiefer und wahrer ausdrückt. Es pba_053.022 ist das schöne Lied "Wilhelms Geist" in Herders "Stimmen der pba_053.023 Völker", das achte im dritten Buche:
pba_053.024
Da kam ein Geist zu Gretchens Thürpba_053.025 Mit manchem Weh und Ach!pba_053.026 Und drückt' am Schloß und kehrt' am Schloßpba_053.027 Und ächzte traurig nach.
pba_053.028 "Jst dies mein Vater Philipp?pba_053.029 Oder ist's mein Bruder Johann?pba_053.030 Oder ist's mein Treulieb Wilhelm,pba_053.031 Aus Schottland kommen an."
pba_053.032 "Jst nicht dein Vater Philipp,pba_053.033 Jst nicht dein Bruder Johann!pba_053.034 Es ist dein Treulieb Wilhelm,pba_053.035 Aus Schottland kommen an.
pba_053.036 "O Gretchen süß, o Gretchen lieb,pba_053.037 Jch bitt' dich, sprich zu mir;pba_053.038 Gieb, Gretchen, mir mein Wort und Treu',pba_053.039 Das ich gegeben dir!"
pba_053.001 zusammengedrängt, zu vereinigen, alles andere ganz fortzuwerfen oder pba_053.002 höchstens durch ein Wort dem Hörer ins Gefühl zu rufen, bringt pba_053.003 er neben der ausgeführten Haupthandlung noch eine ganze Reihe von pba_053.004 Nebenhandlungen in nachdrücklich eingehendstem Vortrage vors Auge pba_053.005 und zerstreut damit das Jnteresse nach den verschiedensten Gesichtspunkten, pba_053.006 so daß in solchem Zusammenhange der breit moralisierende pba_053.007 Schluß freilich nichts Auffallendes mehr hat, so sehr er dem Wesen der pba_053.008 Ballade widerspricht.
pba_053.009 Auch die „Lenore“ verdankt ihre weit hervorragende Stellung dem pba_053.010 vorwiegend lyrischen Stimmungscharakter und Sangeston des Ganzen, pba_053.011 dessen schattenhafte Vorgänge, ganz ohne eigentliche (innere) Handlung, pba_053.012 nur Seelenzustände zu vergegenwärtigen dienen sollen. Will man recht pba_053.013 klar erkennen, was das bedeutet, so vergleiche man mit diesen Gesängen pba_053.014 Stücke wie die „Entführung“ („Knapp', sattle mir mein Dänenroß“) pba_053.015 oder „Des Pfarrers Tochter zu Taubenhain,“ oder „Das Lied von pba_053.016 Treue,“ in welchen in der That Handlung, und zwar um ihrer eigenen pba_053.017 epischen Bedeutung willen, bei dem letztgenannten vielleicht wegen der pba_053.018 anekdotenhaften Schlußwendung, nachgeahmt ist. Aber dennoch! wie pba_053.019 weit steht auch Bürgers „Lenore“ von der alt-schottischen Ballade ab, pba_053.020 welche einen ähnlichen Jnhalt, die todbringende Gewalt bis ins Grab pba_053.021 getreuer Liebe, unendlich viel reiner, tiefer und wahrer ausdrückt. Es pba_053.022 ist das schöne Lied „Wilhelms Geist“ in Herders „Stimmen der pba_053.023 Völker“, das achte im dritten Buche:
pba_053.024
Da kam ein Geist zu Gretchens Thürpba_053.025 Mit manchem Weh und Ach!pba_053.026 Und drückt' am Schloß und kehrt' am Schloßpba_053.027 Und ächzte traurig nach.
pba_053.028 „Jst dies mein Vater Philipp?pba_053.029 Oder ist's mein Bruder Johann?pba_053.030 Oder ist's mein Treulieb Wilhelm,pba_053.031 Aus Schottland kommen an.“
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zusammengedrängt, zu vereinigen, alles andere ganz fortzuwerfen oder pba_053.002
höchstens durch ein Wort dem Hörer ins Gefühl zu rufen, bringt pba_053.003
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vorwiegend lyrischen Stimmungscharakter und Sangeston des Ganzen, pba_053.011
dessen schattenhafte Vorgänge, ganz ohne eigentliche (innere) Handlung, pba_053.012
nur Seelenzustände zu vergegenwärtigen dienen sollen. Will man recht pba_053.013
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/71>, abgerufen am 21.11.2024.
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