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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Genies und Propheten pflegen wir so begabte Menschen pba_719.002
zu nennen; bei beiden sind wir uns freilich bewußt, daß die noch so pba_719.003
große Naturanlage der Gefühlsbegabung in ihnen doch für sich allein pba_719.004
niemals gesetzgebend werden darf, ohne die Gefahr schwerer Verirrung, pba_719.005
sondern daß gerade sie des innigsten Verkehrs mit dem theoretischen und pba_719.006
praktischen Vermögen und der festen Leitung durch sie am dringendsten pba_719.007
bedarf. Hier böte die Erfahrung aber in der That dasjenige dar, pba_719.008
was Kant für unmöglich erklärt: "ein im Subjekt der Erkenntnis pba_719.009
des Gesetzes vorhergehendes Gefühl, das auf Moralität gestimmt pba_719.010
wäre".

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Unzweifelhaft ist nach alledem das, was Kant unter "Achtung" pba_719.012
versteht, ein Pathos zu nennen; wie er auch selbst sie als eine "Wirkung pba_719.013
auf das Gefühl sinnlicher, endlicher
Wesen" bezeichnet pba_719.014
und mit Recht hervorhebt, daß sie einem höchsten, von aller Sinnlichkeit pba_719.015
freien Wesen nicht beigelegt werden könnte. Ein Pathos also pba_719.016
wäre die Achtung im einzelnen Falle ihrer Bethätigung; als ständig pba_719.017
wirksame Gesinnungsweise wäre sie ein Ethos: immer aber ist sie eine pba_719.018
Gefühlsbethätigung, deren Gegenstand das Gesetz selbst ist pba_719.019
oder aber die sinnliche Wahrnehmung, sei es einer Erscheinung, pba_719.020
sei es eines Vorganges, die objektiv den Forderungen pba_719.021
des Gesetzes entsprechen.
Jm ersteren Falle müßte ihr Reflexion pba_719.022
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und sie wäre ein durch moralische Erkenntnis bedingtes pba_719.023
Gefühl, im zweiten Falle aber wäre sie eine rein pba_719.024
ästhetische Empfindung.

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Wenn Kant also von der Achtung (S. 206) sagt, "sie sei pba_719.026
nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie sei die Sittlichkeit pba_719.027
selbst,
" so hat er im Grunde das selbst behauptet, pba_719.028
was Schillers ästhetisch-moralische Philosophie ihm entgegenstellte.
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Ja, er spricht das sogar direkt aus, wenn er (S. 208) pba_719.030
die "Gefühle" der "Achtung" und "Ehrfurcht" vor der Pflicht fordert pba_719.031
und (S. 211) weiter verlangt, daß wir die "Liebe zum Gesetz zum pba_719.032
beständigen, obgleich unerreichbaren Ziele unserer Bestrebungen machen. pba_719.033
Denn an dem, was wir hochschätzen, aber doch scheuen, verwandelt pba_719.034
sich, durch die mehrere Leichtigkeit, ihm Genüge zu thun, die pba_719.035
ehrfurchtsvolle Scheu in Zuneigung und Achtung in Liebe, pba_719.036
wenigstens würde es die Vollendung einer dem Gesetz gewidmeten Gesinnung pba_719.037
sein, wenn es jemals einem Geschöpfe möglich wäre, sie zu pba_719.038
erreichen."

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Damit ist von Kant die Perfektibilität der Gefühle zugestanden, pba_719.040
die Möglichkeit, daß im einzelnen Falle das Gefühl

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Genies und Propheten pflegen wir so begabte Menschen pba_719.002
zu nennen; bei beiden sind wir uns freilich bewußt, daß die noch so pba_719.003
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wäre“.

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Unzweifelhaft ist nach alledem das, was Kant unter „Achtungpba_719.012
versteht, ein Pathos zu nennen; wie er auch selbst sie als eine „Wirkung pba_719.013
auf das Gefühl sinnlicher, endlicher
Wesen“ bezeichnet pba_719.014
und mit Recht hervorhebt, daß sie einem höchsten, von aller Sinnlichkeit pba_719.015
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und sie wäre ein durch moralische Erkenntnis bedingtes pba_719.023
Gefühl, im zweiten Falle aber wäre sie eine rein pba_719.024
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Wenn Kant also von der Achtung (S. 206) sagt,sie sei pba_719.026
nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie sei die Sittlichkeit pba_719.027
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so hat er im Grunde das selbst behauptet, pba_719.028
was Schillers ästhetisch-moralische Philosophie ihm entgegenstellte.
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Ja, er spricht das sogar direkt aus, wenn er (S. 208) pba_719.030
die „Gefühle“ der „Achtung“ und „Ehrfurcht“ vor der Pflicht fordert pba_719.031
und (S. 211) weiter verlangt, daß wir die „Liebe zum Gesetz zum pba_719.032
beständigen, obgleich unerreichbaren Ziele unserer Bestrebungen machen. pba_719.033
Denn an dem, was wir hochschätzen, aber doch scheuen, verwandelt pba_719.034
sich, durch die mehrere Leichtigkeit, ihm Genüge zu thun, die pba_719.035
ehrfurchtsvolle Scheu in Zuneigung und Achtung in Liebe, pba_719.036
wenigstens würde es die Vollendung einer dem Gesetz gewidmeten Gesinnung pba_719.037
sein, wenn es jemals einem Geschöpfe möglich wäre, sie zu pba_719.038
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 719. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/737>, abgerufen am 22.11.2024.