pba_719.001 Genies und Propheten pflegen wir so begabte Menschen pba_719.002 zu nennen; bei beiden sind wir uns freilich bewußt, daß die noch so pba_719.003 große Naturanlage der Gefühlsbegabung in ihnen doch für sich allein pba_719.004 niemals gesetzgebend werden darf, ohne die Gefahr schwerer Verirrung, pba_719.005 sondern daß gerade sie des innigsten Verkehrs mit dem theoretischen und pba_719.006 praktischen Vermögen und der festen Leitung durch sie am dringendsten pba_719.007 bedarf. Hier böte die Erfahrung aber in der That dasjenige dar, pba_719.008 was Kant für unmöglich erklärt: "ein im Subjekt der Erkenntnis pba_719.009 des Gesetzes vorhergehendes Gefühl, das auf Moralität gestimmtpba_719.010 wäre".
pba_719.011 Unzweifelhaft ist nach alledem das, was Kant unter "Achtung" pba_719.012 versteht, ein Pathos zu nennen; wie er auch selbst sie als eine "Wirkung pba_719.013 auf das Gefühl sinnlicher, endlicher Wesen" bezeichnet pba_719.014 und mit Recht hervorhebt, daß sie einem höchsten, von aller Sinnlichkeit pba_719.015 freien Wesen nicht beigelegt werden könnte. Ein Pathos also pba_719.016 wäre die Achtung im einzelnen Falle ihrer Bethätigung; als ständig pba_719.017 wirksame Gesinnungsweise wäre sie ein Ethos: immer aber ist sie eine pba_719.018 Gefühlsbethätigung, deren Gegenstand das Gesetz selbst ist pba_719.019 oder aber die sinnliche Wahrnehmung, sei es einer Erscheinung, pba_719.020 sei es eines Vorganges, die objektiv den Forderungen pba_719.021 des Gesetzes entsprechen. Jm ersteren Falle müßte ihr Reflexion pba_719.022 vorausgehen und sie wäre ein durch moralische Erkenntnis bedingtes pba_719.023 Gefühl, im zweiten Falle aber wäre sie eine rein pba_719.024 ästhetische Empfindung.
pba_719.025 Wenn Kant also von der Achtung (S. 206) sagt, "sie sei pba_719.026 nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie sei die Sittlichkeit pba_719.027 selbst," so hat er im Grunde das selbst behauptet, pba_719.028 was Schillers ästhetisch-moralische Philosophie ihm entgegenstellte.pba_719.029 Ja, er spricht das sogar direkt aus, wenn er (S. 208) pba_719.030 die "Gefühle" der "Achtung" und "Ehrfurcht" vor der Pflicht fordert pba_719.031 und (S. 211) weiter verlangt, daß wir die "Liebe zum Gesetz zum pba_719.032 beständigen, obgleich unerreichbaren Ziele unserer Bestrebungen machen. pba_719.033 Denn an dem, was wir hochschätzen, aber doch scheuen, verwandeltpba_719.034 sich, durch die mehrere Leichtigkeit, ihm Genüge zu thun, die pba_719.035 ehrfurchtsvolle Scheu in Zuneigung und Achtung in Liebe,pba_719.036 wenigstens würde es die Vollendung einer dem Gesetz gewidmeten Gesinnung pba_719.037 sein, wenn es jemals einem Geschöpfe möglich wäre, sie zu pba_719.038 erreichen."
pba_719.039 Damit ist von Kant die Perfektibilität der Gefühle zugestanden, pba_719.040 die Möglichkeit, daß im einzelnen Falle das Gefühl
pba_719.001 Genies und Propheten pflegen wir so begabte Menschen pba_719.002 zu nennen; bei beiden sind wir uns freilich bewußt, daß die noch so pba_719.003 große Naturanlage der Gefühlsbegabung in ihnen doch für sich allein pba_719.004 niemals gesetzgebend werden darf, ohne die Gefahr schwerer Verirrung, pba_719.005 sondern daß gerade sie des innigsten Verkehrs mit dem theoretischen und pba_719.006 praktischen Vermögen und der festen Leitung durch sie am dringendsten pba_719.007 bedarf. Hier böte die Erfahrung aber in der That dasjenige dar, pba_719.008 was Kant für unmöglich erklärt: „ein im Subjekt der Erkenntnis pba_719.009 des Gesetzes vorhergehendes Gefühl, das auf Moralität gestimmtpba_719.010 wäre“.
pba_719.011 Unzweifelhaft ist nach alledem das, was Kant unter „Achtung“ pba_719.012 versteht, ein Pathos zu nennen; wie er auch selbst sie als eine „Wirkung pba_719.013 auf das Gefühl sinnlicher, endlicher Wesen“ bezeichnet pba_719.014 und mit Recht hervorhebt, daß sie einem höchsten, von aller Sinnlichkeit pba_719.015 freien Wesen nicht beigelegt werden könnte. Ein Pathos also pba_719.016 wäre die Achtung im einzelnen Falle ihrer Bethätigung; als ständig pba_719.017 wirksame Gesinnungsweise wäre sie ein Ethos: immer aber ist sie eine pba_719.018 Gefühlsbethätigung, deren Gegenstand das Gesetz selbst ist pba_719.019 oder aber die sinnliche Wahrnehmung, sei es einer Erscheinung, pba_719.020 sei es eines Vorganges, die objektiv den Forderungen pba_719.021 des Gesetzes entsprechen. Jm ersteren Falle müßte ihr Reflexion pba_719.022 vorausgehen und sie wäre ein durch moralische Erkenntnis bedingtes pba_719.023 Gefühl, im zweiten Falle aber wäre sie eine rein pba_719.024 ästhetische Empfindung.
pba_719.025 Wenn Kant also von der Achtung (S. 206) sagt, „sie sei pba_719.026 nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie sei die Sittlichkeit pba_719.027 selbst,“ so hat er im Grunde das selbst behauptet, pba_719.028 was Schillers ästhetisch-moralische Philosophie ihm entgegenstellte.pba_719.029 Ja, er spricht das sogar direkt aus, wenn er (S. 208) pba_719.030 die „Gefühle“ der „Achtung“ und „Ehrfurcht“ vor der Pflicht fordert pba_719.031 und (S. 211) weiter verlangt, daß wir die „Liebe zum Gesetz zum pba_719.032 beständigen, obgleich unerreichbaren Ziele unserer Bestrebungen machen. pba_719.033 Denn an dem, was wir hochschätzen, aber doch scheuen, verwandeltpba_719.034 sich, durch die mehrere Leichtigkeit, ihm Genüge zu thun, die pba_719.035 ehrfurchtsvolle Scheu in Zuneigung und Achtung in Liebe,pba_719.036 wenigstens würde es die Vollendung einer dem Gesetz gewidmeten Gesinnung pba_719.037 sein, wenn es jemals einem Geschöpfe möglich wäre, sie zu pba_719.038 erreichen.“
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Genies und Propheten pflegen wir so begabte Menschen pba_719.002
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was Kant für unmöglich erklärt: „ein im Subjekt der Erkenntnis pba_719.009
des Gesetzes vorhergehendes Gefühl, das auf Moralität gestimmt pba_719.010
wäre“.
pba_719.011
Unzweifelhaft ist nach alledem das, was Kant unter „Achtung“ pba_719.012
versteht, ein Pathos zu nennen; wie er auch selbst sie als eine „Wirkung pba_719.013
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Wenn Kant also von der Achtung (S. 206) sagt, „sie sei pba_719.026
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 719. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/737>, abgerufen am 22.11.2024.
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