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Baumstark, Eduard: Kameralistische Encyclopädie. Heidelberg u. a., 1835.

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namentlich war dieser Zustand durch Schwäche, Leidenschaftlichkeit
und Unmündigkeit der Könige sowie durch die Herrschaft der
Geistlichkeit, der Adels- und der Geldaristokratie auf die höchste
Spitze getrieben, so daß eine Anzahl philosophischer Köpfe und
zugleich edler Männer auf den Gedanken geriethen, den gerade
entgegengesetzten Staatszustand nach einem selbst geschaffenen Ideale
auf dem Wege der Reform hervorzurufen. So entstand 2) das
physiocratische oder Landbausystem
4). Dasselbe wollte die
natürliche Ordnung (Ordre naturel, Physiocratie) wieder her-
stellen, und stellte daher als Grundsatz auf, daß der Natur der
Sache nach nicht das Geld, sondern vielmehr die wirklichen Be-
dürfnißmittel den Reichthum ausmachen, das Geld aber, an sich
ungenießbar, blos ein Verkehrsmittel sei. Je mehr man an jenen
Bedürfnißmitteln selbst besitze oder über je mehr davon man ver-
fügen könne, sagt dieses System, um so reicher sei man zu nennen.
Da es nun aber der Stoff sei, den man gebrauche und verzehre,
so verschaffe uns blos die Natur und durch sie dasjenige Gewerbe
den Reichthum, welches der Natur Güter abgewinne, und folglich
sei blos der Erdbau (Landbau) productiv unter den Gewerben.
Neben manchen andern Folgerungen aus diesen Prinzipien5) ging
aus dem Fundamentalprinzipe hervor, daß der Staat der bürger-
lichen Industrie keine künstliche Richtung geben, sondern ihren
natürlichen ungestörten Entwickelungsgang lassen solle (Laissez
faire et laissez passer),
wie ihn die Natur und der Verkehr
erschaffe6). Obschon dies ganze System viel zu idealisch war, als
daß es in der Staatspraxis hätte verwirklicht werden dürfen, so
war doch seine Schärfe, Selbstständigkeit und theilweise Natür-
lichkeit die Ursache vieler Aufschlüsse über die wahren Natur- und
Verkehrsverhältnisse der Menschheit und es bildete die Grundlagen
eines neuen der Wahrheit näher kommenden Systemes. Dies ist
3) das Industrie- oder allgemeine Gewerbssystem. Das-
selbe tritt jenen Beiden entgegen7) und stellt als Grundsatz auf,
die Natur sei zwar die lezte Quelle aller Güter, aber die Arbeit
versorge den Menschen mit den Lebensgütern und mit einem solchen
Vorrathe von Vermögen, den er wieder zur Erweiterung seines
Erwerbes verwende (Capital)8). Weder die Einträglichkeit an
Geld, noch die bloße Sachlichkeit der Güter sei das Wesentliche
für das Menschenleben, sondern überhaupt der Grad ihrer Noth-
wendigkeit zu den verschieden wichtigen Zwecken der Menschen oder
ihr Werth. Unter anderen Folgerungen9) geht als die charak-
teristischste hervor, daß alle Gewerbe productiv sind, welche neue
Werthe hervorbringen, und von Seiten des Staates sämmtliche

namentlich war dieſer Zuſtand durch Schwäche, Leidenſchaftlichkeit
und Unmündigkeit der Könige ſowie durch die Herrſchaft der
Geiſtlichkeit, der Adels- und der Geldariſtokratie auf die höchſte
Spitze getrieben, ſo daß eine Anzahl philoſophiſcher Köpfe und
zugleich edler Männer auf den Gedanken geriethen, den gerade
entgegengeſetzten Staatszuſtand nach einem ſelbſt geſchaffenen Ideale
auf dem Wege der Reform hervorzurufen. So entſtand 2) das
phyſiocratiſche oder Landbauſyſtem
4). Daſſelbe wollte die
natürliche Ordnung (Ordre naturel, Physiocratie) wieder her-
ſtellen, und ſtellte daher als Grundſatz auf, daß der Natur der
Sache nach nicht das Geld, ſondern vielmehr die wirklichen Be-
dürfnißmittel den Reichthum ausmachen, das Geld aber, an ſich
ungenießbar, blos ein Verkehrsmittel ſei. Je mehr man an jenen
Bedürfnißmitteln ſelbſt beſitze oder über je mehr davon man ver-
fügen könne, ſagt dieſes Syſtem, um ſo reicher ſei man zu nennen.
Da es nun aber der Stoff ſei, den man gebrauche und verzehre,
ſo verſchaffe uns blos die Natur und durch ſie dasjenige Gewerbe
den Reichthum, welches der Natur Güter abgewinne, und folglich
ſei blos der Erdbau (Landbau) productiv unter den Gewerben.
Neben manchen andern Folgerungen aus dieſen Prinzipien5) ging
aus dem Fundamentalprinzipe hervor, daß der Staat der bürger-
lichen Induſtrie keine künſtliche Richtung geben, ſondern ihren
natürlichen ungeſtörten Entwickelungsgang laſſen ſolle (Laissez
faire et laissez passer),
wie ihn die Natur und der Verkehr
erſchaffe6). Obſchon dies ganze Syſtem viel zu idealiſch war, als
daß es in der Staatspraxis hätte verwirklicht werden dürfen, ſo
war doch ſeine Schärfe, Selbſtſtändigkeit und theilweiſe Natür-
lichkeit die Urſache vieler Aufſchlüſſe über die wahren Natur- und
Verkehrsverhältniſſe der Menſchheit und es bildete die Grundlagen
eines neuen der Wahrheit näher kommenden Syſtemes. Dies iſt
3) das Induſtrie- oder allgemeine Gewerbsſyſtem. Das-
ſelbe tritt jenen Beiden entgegen7) und ſtellt als Grundſatz auf,
die Natur ſei zwar die lezte Quelle aller Güter, aber die Arbeit
verſorge den Menſchen mit den Lebensgütern und mit einem ſolchen
Vorrathe von Vermögen, den er wieder zur Erweiterung ſeines
Erwerbes verwende (Capital)8). Weder die Einträglichkeit an
Geld, noch die bloße Sachlichkeit der Güter ſei das Weſentliche
für das Menſchenleben, ſondern überhaupt der Grad ihrer Noth-
wendigkeit zu den verſchieden wichtigen Zwecken der Menſchen oder
ihr Werth. Unter anderen Folgerungen9) geht als die charak-
teriſtiſchſte hervor, daß alle Gewerbe productiv ſind, welche neue
Werthe hervorbringen, und von Seiten des Staates ſämmtliche

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[540/0562] namentlich war dieſer Zuſtand durch Schwäche, Leidenſchaftlichkeit und Unmündigkeit der Könige ſowie durch die Herrſchaft der Geiſtlichkeit, der Adels- und der Geldariſtokratie auf die höchſte Spitze getrieben, ſo daß eine Anzahl philoſophiſcher Köpfe und zugleich edler Männer auf den Gedanken geriethen, den gerade entgegengeſetzten Staatszuſtand nach einem ſelbſt geſchaffenen Ideale auf dem Wege der Reform hervorzurufen. So entſtand 2) das phyſiocratiſche oder Landbauſyſtem4). Daſſelbe wollte die natürliche Ordnung (Ordre naturel, Physiocratie) wieder her- ſtellen, und ſtellte daher als Grundſatz auf, daß der Natur der Sache nach nicht das Geld, ſondern vielmehr die wirklichen Be- dürfnißmittel den Reichthum ausmachen, das Geld aber, an ſich ungenießbar, blos ein Verkehrsmittel ſei. Je mehr man an jenen Bedürfnißmitteln ſelbſt beſitze oder über je mehr davon man ver- fügen könne, ſagt dieſes Syſtem, um ſo reicher ſei man zu nennen. Da es nun aber der Stoff ſei, den man gebrauche und verzehre, ſo verſchaffe uns blos die Natur und durch ſie dasjenige Gewerbe den Reichthum, welches der Natur Güter abgewinne, und folglich ſei blos der Erdbau (Landbau) productiv unter den Gewerben. Neben manchen andern Folgerungen aus dieſen Prinzipien5) ging aus dem Fundamentalprinzipe hervor, daß der Staat der bürger- lichen Induſtrie keine künſtliche Richtung geben, ſondern ihren natürlichen ungeſtörten Entwickelungsgang laſſen ſolle (Laissez faire et laissez passer), wie ihn die Natur und der Verkehr erſchaffe6). Obſchon dies ganze Syſtem viel zu idealiſch war, als daß es in der Staatspraxis hätte verwirklicht werden dürfen, ſo war doch ſeine Schärfe, Selbſtſtändigkeit und theilweiſe Natür- lichkeit die Urſache vieler Aufſchlüſſe über die wahren Natur- und Verkehrsverhältniſſe der Menſchheit und es bildete die Grundlagen eines neuen der Wahrheit näher kommenden Syſtemes. Dies iſt 3) das Induſtrie- oder allgemeine Gewerbsſyſtem. Das- ſelbe tritt jenen Beiden entgegen7) und ſtellt als Grundſatz auf, die Natur ſei zwar die lezte Quelle aller Güter, aber die Arbeit verſorge den Menſchen mit den Lebensgütern und mit einem ſolchen Vorrathe von Vermögen, den er wieder zur Erweiterung ſeines Erwerbes verwende (Capital)8). Weder die Einträglichkeit an Geld, noch die bloße Sachlichkeit der Güter ſei das Weſentliche für das Menſchenleben, ſondern überhaupt der Grad ihrer Noth- wendigkeit zu den verſchieden wichtigen Zwecken der Menſchen oder ihr Werth. Unter anderen Folgerungen9) geht als die charak- teriſtiſchſte hervor, daß alle Gewerbe productiv ſind, welche neue Werthe hervorbringen, und von Seiten des Staates ſämmtliche

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Zitationshilfe: Baumstark, Eduard: Kameralistische Encyclopädie. Heidelberg u. a., 1835, S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumstark_encyclopaedie_1835/562>, abgerufen am 22.11.2024.