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Baumstark, Eduard: Kameralistische Encyclopädie. Heidelberg u. a., 1835.

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sich auf Bildung, Sitten und Religion, wie auf das Vermögen.
Die hier abzuhandelnde Volkswirthschaftspflege (Gewerbspolizei)
ist nichts anderes als die Wirthschaftspolizei in Verbindung mit
demjenigen Theile der Bildungspolizei, der die gewerbliche Bildung
zum Gegenstande hat. Sie steht also unter dem Prinzipe der Po-
lizei überhaupt, und diese unter dem letzten Grundsatze des Staats1).
Der Staat ist eine historische Nothwendigkeit und umfaßt die Zwecke
der Menschheit, aus einem Gesichtspunkte betrachtet, in welchem
sie vom Einzelnen nicht erreichbar sind. Wäre dies nicht, so würde
er nicht bestehen. Die Staatsgewalt hat daher auch nur dort und
dann einzuschreiten, wo und wann die Kräfte und der Wille der
Einzelnen nicht zuverlässig ist und nicht mehr zureicht, um einen
vernünftigen Zweck zu erreichen. Im Uebrigen steht dem Einzelnen,
zwar nicht Willkühr und Laune, sondern rechtliche Freiheit zu.
Hieraus geht von selbst hervor, daß die Wirksamkeit des Staats
je nach dem Grade der Entwickelung der Nation verschieden sein
muß, und daß er in denjenigen Dingen am wenigsten einzuschreiten
hat, worin vorausgesetzt werden muß, daß der Einzelne, ohne
Andere zu beeinträchtigen, aus eigener Einsicht das Beste wählt
und thut. Weil dies nun im Rechtsgebiete nicht zu erwarten steht,
so lange man eine Civilisation nicht verwirklicht sieht, für welche
kaum die Einbildungskraft Raum gibt, so wird der Staat auch
stets in jenem am meisten einzuschreiten haben. Am wenigsten wird
er dies bedürfen in den Wirthschaftsangelegenheiten, in welchen
die eigene Einsicht und der Vortheil die Basis bildet, auf welcher
sich die Völker frei entwickeln. Hier reicht es hin, wenn er, mit
Gestattung der Freiheit, nur einwirkt, wo Kraft, Einsicht oder
Willen der Einzelnen zur Erreichung eines guten Zweckes mangelt,
und es stehen demselben, je nach der Natur der Gegenstände, Hilfs-
anstalten, Belehrung, Ermunterung, Hinwegräumung von Hinder-
nissen, und, je nach der Dringlichkeit des Zweckes, auch Zwang
als Mittel zu Gebote2).

1) Ueber die allmälige Ausbildung des Begriffs der Polizei bis zur Einführung
dieses Wortes s. §. 23. Die verschiedenen Versuche, das Wesen der Polizei zu
bestimmen, mußten mißlingen, da man nicht genug auf die historische Entwickelung
des Begriffs Rücksicht nahm und sie entweder blos nach der Staatspraxis und Be-
hördenorganisation einzelner Staaten oder nur nach staatswissenschaftlichen Systemen
zu definiren suchte. Es möchte sich aus Obigem ergeben, daß man ihren Begriff
allerdings positiv bestimmen kann, und daß die Meinung, sie könne nur negativ
definirt werden, blos daher kommt, daß man keine reinen Polizeibehörden in unsern
Staaten hat, weil der Behördenorganismus keine Folge von theoretischen Systemen,
sondern von praktischer Zweckmäßigkeit ist. Die Begriffsanarchie war jedoch von
wesentlichen Folgen für das Staatsleben, weil man in dem Gebiete der Polizei
auch zu keinem allgemeinen Prinzipe kommen konnte und sich in allen Zweigen der-
selben von Widerspruch zu Widerspruch wälzte.

ſich auf Bildung, Sitten und Religion, wie auf das Vermögen.
Die hier abzuhandelnde Volkswirthſchaftspflege (Gewerbspolizei)
iſt nichts anderes als die Wirthſchaftspolizei in Verbindung mit
demjenigen Theile der Bildungspolizei, der die gewerbliche Bildung
zum Gegenſtande hat. Sie ſteht alſo unter dem Prinzipe der Po-
lizei überhaupt, und dieſe unter dem letzten Grundſatze des Staats1).
Der Staat iſt eine hiſtoriſche Nothwendigkeit und umfaßt die Zwecke
der Menſchheit, aus einem Geſichtspunkte betrachtet, in welchem
ſie vom Einzelnen nicht erreichbar ſind. Wäre dies nicht, ſo würde
er nicht beſtehen. Die Staatsgewalt hat daher auch nur dort und
dann einzuſchreiten, wo und wann die Kräfte und der Wille der
Einzelnen nicht zuverläſſig iſt und nicht mehr zureicht, um einen
vernünftigen Zweck zu erreichen. Im Uebrigen ſteht dem Einzelnen,
zwar nicht Willkühr und Laune, ſondern rechtliche Freiheit zu.
Hieraus geht von ſelbſt hervor, daß die Wirkſamkeit des Staats
je nach dem Grade der Entwickelung der Nation verſchieden ſein
muß, und daß er in denjenigen Dingen am wenigſten einzuſchreiten
hat, worin vorausgeſetzt werden muß, daß der Einzelne, ohne
Andere zu beeinträchtigen, aus eigener Einſicht das Beſte wählt
und thut. Weil dies nun im Rechtsgebiete nicht zu erwarten ſteht,
ſo lange man eine Civiliſation nicht verwirklicht ſieht, für welche
kaum die Einbildungskraft Raum gibt, ſo wird der Staat auch
ſtets in jenem am meiſten einzuſchreiten haben. Am wenigſten wird
er dies bedürfen in den Wirthſchaftsangelegenheiten, in welchen
die eigene Einſicht und der Vortheil die Baſis bildet, auf welcher
ſich die Völker frei entwickeln. Hier reicht es hin, wenn er, mit
Geſtattung der Freiheit, nur einwirkt, wo Kraft, Einſicht oder
Willen der Einzelnen zur Erreichung eines guten Zweckes mangelt,
und es ſtehen demſelben, je nach der Natur der Gegenſtände, Hilfs-
anſtalten, Belehrung, Ermunterung, Hinwegräumung von Hinder-
niſſen, und, je nach der Dringlichkeit des Zweckes, auch Zwang
als Mittel zu Gebote2).

1) Ueber die allmälige Ausbildung des Begriffs der Polizei bis zur Einführung
dieſes Wortes ſ. §. 23. Die verſchiedenen Verſuche, das Weſen der Polizei zu
beſtimmen, mußten mißlingen, da man nicht genug auf die hiſtoriſche Entwickelung
des Begriffs Rückſicht nahm und ſie entweder blos nach der Staatspraxis und Be-
hördenorganiſation einzelner Staaten oder nur nach ſtaatswiſſenſchaftlichen Syſtemen
zu definiren ſuchte. Es möchte ſich aus Obigem ergeben, daß man ihren Begriff
allerdings poſitiv beſtimmen kann, und daß die Meinung, ſie könne nur negativ
definirt werden, blos daher kommt, daß man keine reinen Polizeibehörden in unſern
Staaten hat, weil der Behördenorganismus keine Folge von theoretiſchen Syſtemen,
ſondern von praktiſcher Zweckmäßigkeit iſt. Die Begriffsanarchie war jedoch von
weſentlichen Folgen für das Staatsleben, weil man in dem Gebiete der Polizei
auch zu keinem allgemeinen Prinzipe kommen konnte und ſich in allen Zweigen der-
ſelben von Widerſpruch zu Widerſpruch wälzte.

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[623/0645] ſich auf Bildung, Sitten und Religion, wie auf das Vermögen. Die hier abzuhandelnde Volkswirthſchaftspflege (Gewerbspolizei) iſt nichts anderes als die Wirthſchaftspolizei in Verbindung mit demjenigen Theile der Bildungspolizei, der die gewerbliche Bildung zum Gegenſtande hat. Sie ſteht alſo unter dem Prinzipe der Po- lizei überhaupt, und dieſe unter dem letzten Grundſatze des Staats1). Der Staat iſt eine hiſtoriſche Nothwendigkeit und umfaßt die Zwecke der Menſchheit, aus einem Geſichtspunkte betrachtet, in welchem ſie vom Einzelnen nicht erreichbar ſind. Wäre dies nicht, ſo würde er nicht beſtehen. Die Staatsgewalt hat daher auch nur dort und dann einzuſchreiten, wo und wann die Kräfte und der Wille der Einzelnen nicht zuverläſſig iſt und nicht mehr zureicht, um einen vernünftigen Zweck zu erreichen. Im Uebrigen ſteht dem Einzelnen, zwar nicht Willkühr und Laune, ſondern rechtliche Freiheit zu. Hieraus geht von ſelbſt hervor, daß die Wirkſamkeit des Staats je nach dem Grade der Entwickelung der Nation verſchieden ſein muß, und daß er in denjenigen Dingen am wenigſten einzuſchreiten hat, worin vorausgeſetzt werden muß, daß der Einzelne, ohne Andere zu beeinträchtigen, aus eigener Einſicht das Beſte wählt und thut. Weil dies nun im Rechtsgebiete nicht zu erwarten ſteht, ſo lange man eine Civiliſation nicht verwirklicht ſieht, für welche kaum die Einbildungskraft Raum gibt, ſo wird der Staat auch ſtets in jenem am meiſten einzuſchreiten haben. Am wenigſten wird er dies bedürfen in den Wirthſchaftsangelegenheiten, in welchen die eigene Einſicht und der Vortheil die Baſis bildet, auf welcher ſich die Völker frei entwickeln. Hier reicht es hin, wenn er, mit Geſtattung der Freiheit, nur einwirkt, wo Kraft, Einſicht oder Willen der Einzelnen zur Erreichung eines guten Zweckes mangelt, und es ſtehen demſelben, je nach der Natur der Gegenſtände, Hilfs- anſtalten, Belehrung, Ermunterung, Hinwegräumung von Hinder- niſſen, und, je nach der Dringlichkeit des Zweckes, auch Zwang als Mittel zu Gebote2). ¹⁾ Ueber die allmälige Ausbildung des Begriffs der Polizei bis zur Einführung dieſes Wortes ſ. §. 23. Die verſchiedenen Verſuche, das Weſen der Polizei zu beſtimmen, mußten mißlingen, da man nicht genug auf die hiſtoriſche Entwickelung des Begriffs Rückſicht nahm und ſie entweder blos nach der Staatspraxis und Be- hördenorganiſation einzelner Staaten oder nur nach ſtaatswiſſenſchaftlichen Syſtemen zu definiren ſuchte. Es möchte ſich aus Obigem ergeben, daß man ihren Begriff allerdings poſitiv beſtimmen kann, und daß die Meinung, ſie könne nur negativ definirt werden, blos daher kommt, daß man keine reinen Polizeibehörden in unſern Staaten hat, weil der Behördenorganismus keine Folge von theoretiſchen Syſtemen, ſondern von praktiſcher Zweckmäßigkeit iſt. Die Begriffsanarchie war jedoch von weſentlichen Folgen für das Staatsleben, weil man in dem Gebiete der Polizei auch zu keinem allgemeinen Prinzipe kommen konnte und ſich in allen Zweigen der- ſelben von Widerſpruch zu Widerſpruch wälzte.

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Zitationshilfe: Baumstark, Eduard: Kameralistische Encyclopädie. Heidelberg u. a., 1835, S. 623. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumstark_encyclopaedie_1835/645>, abgerufen am 21.11.2024.