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Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895.

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zuvor in unendlicher Ferne zu stehen schien, war jetzt That und Wahrheit ge-
worden. Dem neuen Wahlgesetz hatte die Revolution ihren Stempel aufgedrückt.
Es sprach in seinem § 8 klipp und klar aus:

"daß jeder Preuße, der das 24. Lebensjahr zurückgelegt und nicht den Vollbesitz
der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Urtheils verloren
hatte, in der Gemeinde, in der er seit sechs Monaten seinen Wohnsitz und
Aufenthalt hatte, stimmberechtigter Urwähler sei, insofern er nicht aus öffent-
lichen Mitteln Armenunterstützung beziehe."

Das war also die Proklamirung des allgemeinen gleichen Wahlrechts, kraft
dessen 3661993 über 24 Jahre alte Männer Landtagswähler wurden.

Kurze Zeit darauf fanden die Wahlen statt und wurde der neugewählte
Landtag am 22. Mai durch den König mit einer Thronrede eröffnet. Die Linke
hatte die Mehrheit, aber sie war eine bunt zusammengewürfelte Mehrheit ohne
festen Zusammenhalt und ohne den energischen Geist und die feste Entschlossenheit,
die für eine Versammlung von solcher Bedeutung und in der gegebenen Situation
nothwendig war. Statt sofort durch eine Reihe kräftiger Handlungen sich die
Macht zu sichern und die entgegenwirkenden Kräfte einzuschüchtern und unschädlich
zu machen, vertrödelte sie die kostbare Zeit durch weitschweifige Verhandlungen, und
oft über Dinge von untergeordneter Bedeutung. Ganz anders die Kamarilla und die
Militär- und Junkerpartei. Was seit den Märztagen geschehen war, erfüllte
diese mit tiefster Entrüstung und einer geheimen Wuth, sie trachteten darnach, jedes
brauchbare Mittel zu ergreifen, um das Geschehene nach Möglichkeit rückgängig
zu machen. Dem liberalen Ministerium Camphausen, das aus waschlappigen Alt-
liberalen zusammengesetzt war und dem schon aus diesem Grunde alles Zeug zu
entschiedenem Handeln fehlte, legte man bei dem König jedes denkbare Hinderniß
in den Weg. Der König selbst hatte sich, wie nach seiner ganzen Vergangenheit
und bei einem preußischen König es nicht anders sein konnte, nur widerwillig und
dem Zwange gehorchend auf die neuen Bahnen drängen lassen und ersehnte die
Gelegenheit zur Umkehr.

Das Bürgerthum war gespalten, die eigentliche Bourgeoisie hatte mit dem
größten Unbehagen die Entwicklung der Dinge seit den Märztagen verfolgt und
insbesondere beunruhigte sie, daß die Arbeiter eine immer größer werdende Selbst-
ständigkeit zeigten und mit Nachdruck auf soziale Reformen drängten, für die bisher
in der Kammer sehr wenig Sinn und Verständniß vorhanden war. Das Gespenst
des Kommunismus ging um und ängstigte die stets und überall durch Mangel an
Muth sich auszeichnende Bourgeoisie. Was bei ihr das Unbehagen erhöhte, war
die große Arbeitslosigkeit, die allgemein herrschte, die Unzufriedenheit in den Massen
schürte und die Berliner Behörden zur Jnangriffnahme öffentlicher Arbeiten zwang,
um den Arbeitslosen einigen Verdienst zu gewähren. Man ließ unter anderem
die sogenannten Rehberge abtragen, eine sehr unnütze und unproduktive Arbeit,
von der die betheiligten Arbeiter den Namen "die Rehberger" erhielten. Gleich-
zeitig ließ der Arbeitsminister von Patow die Arbeitslosen in Schaaren aus der Haupt-
stadt abschieben, um das revolutionäre Element zu entfernen. Oeffentliche
Demonstrationen, die wegen der angekündigten Rückkehr des Prinzen von Preußen
(des späteren Kaisers Wilhelm) aus England stattfanden und bei welchen die Arbeiter
sich stark betheiligten, wie der Sturm auf das Zeughaus am 14. Juni trugen ferner
dazu bei, bei der Bourgeoisie einen Zustand zu erzeugen, der sie aus der Angst und
der Aufregung nicht mehr herauskommen ließ. Sie sehnte sich nach einem Retter.

Unmittelbar nach dem Zeughaussturm hatte das Ministerium Camphausen
seinen Abschied eingereicht, um von dem Ministerium Auerswald, das schon um
eine Nüance weiter nach rechts stand, abgelöst zu werden. Um jene Zeit war aber
Berlin und die Mark von Militär fast entblößt. Der Kampf gegen Dänemark wegen
Schleswig-Holsteins war entbrannt und hatte einen Theil der Armee unter Wrangel
absorbirt. Daher hielt es der Hof für zweckmäßig, um die Gunst der Bürger-
wehr zu buhlen, die man gleichzeitig gegen die Arbeiter einzunehmen suchte, was

zuvor in unendlicher Ferne zu stehen schien, war jetzt That und Wahrheit ge-
worden. Dem neuen Wahlgesetz hatte die Revolution ihren Stempel aufgedrückt.
Es sprach in seinem § 8 klipp und klar aus:

„daß jeder Preuße, der das 24. Lebensjahr zurückgelegt und nicht den Vollbesitz
der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Urtheils verloren
hatte, in der Gemeinde, in der er seit sechs Monaten seinen Wohnsitz und
Aufenthalt hatte, stimmberechtigter Urwähler sei, insofern er nicht aus öffent-
lichen Mitteln Armenunterstützung beziehe.“

Das war also die Proklamirung des allgemeinen gleichen Wahlrechts, kraft
dessen 3661993 über 24 Jahre alte Männer Landtagswähler wurden.

Kurze Zeit darauf fanden die Wahlen statt und wurde der neugewählte
Landtag am 22. Mai durch den König mit einer Thronrede eröffnet. Die Linke
hatte die Mehrheit, aber sie war eine bunt zusammengewürfelte Mehrheit ohne
festen Zusammenhalt und ohne den energischen Geist und die feste Entschlossenheit,
die für eine Versammlung von solcher Bedeutung und in der gegebenen Situation
nothwendig war. Statt sofort durch eine Reihe kräftiger Handlungen sich die
Macht zu sichern und die entgegenwirkenden Kräfte einzuschüchtern und unschädlich
zu machen, vertrödelte sie die kostbare Zeit durch weitschweifige Verhandlungen, und
oft über Dinge von untergeordneter Bedeutung. Ganz anders die Kamarilla und die
Militär- und Junkerpartei. Was seit den Märztagen geschehen war, erfüllte
diese mit tiefster Entrüstung und einer geheimen Wuth, sie trachteten darnach, jedes
brauchbare Mittel zu ergreifen, um das Geschehene nach Möglichkeit rückgängig
zu machen. Dem liberalen Ministerium Camphausen, das aus waschlappigen Alt-
liberalen zusammengesetzt war und dem schon aus diesem Grunde alles Zeug zu
entschiedenem Handeln fehlte, legte man bei dem König jedes denkbare Hinderniß
in den Weg. Der König selbst hatte sich, wie nach seiner ganzen Vergangenheit
und bei einem preußischen König es nicht anders sein konnte, nur widerwillig und
dem Zwange gehorchend auf die neuen Bahnen drängen lassen und ersehnte die
Gelegenheit zur Umkehr.

Das Bürgerthum war gespalten, die eigentliche Bourgeoisie hatte mit dem
größten Unbehagen die Entwicklung der Dinge seit den Märztagen verfolgt und
insbesondere beunruhigte sie, daß die Arbeiter eine immer größer werdende Selbst-
ständigkeit zeigten und mit Nachdruck auf soziale Reformen drängten, für die bisher
in der Kammer sehr wenig Sinn und Verständniß vorhanden war. Das Gespenst
des Kommunismus ging um und ängstigte die stets und überall durch Mangel an
Muth sich auszeichnende Bourgeoisie. Was bei ihr das Unbehagen erhöhte, war
die große Arbeitslosigkeit, die allgemein herrschte, die Unzufriedenheit in den Massen
schürte und die Berliner Behörden zur Jnangriffnahme öffentlicher Arbeiten zwang,
um den Arbeitslosen einigen Verdienst zu gewähren. Man ließ unter anderem
die sogenannten Rehberge abtragen, eine sehr unnütze und unproduktive Arbeit,
von der die betheiligten Arbeiter den Namen „die Rehberger“ erhielten. Gleich-
zeitig ließ der Arbeitsminister von Patow die Arbeitslosen in Schaaren aus der Haupt-
stadt abschieben, um das revolutionäre Element zu entfernen. Oeffentliche
Demonstrationen, die wegen der angekündigten Rückkehr des Prinzen von Preußen
(des späteren Kaisers Wilhelm) aus England stattfanden und bei welchen die Arbeiter
sich stark betheiligten, wie der Sturm auf das Zeughaus am 14. Juni trugen ferner
dazu bei, bei der Bourgeoisie einen Zustand zu erzeugen, der sie aus der Angst und
der Aufregung nicht mehr herauskommen ließ. Sie sehnte sich nach einem Retter.

Unmittelbar nach dem Zeughaussturm hatte das Ministerium Camphausen
seinen Abschied eingereicht, um von dem Ministerium Auerswald, das schon um
eine Nüance weiter nach rechts stand, abgelöst zu werden. Um jene Zeit war aber
Berlin und die Mark von Militär fast entblößt. Der Kampf gegen Dänemark wegen
Schleswig-Holsteins war entbrannt und hatte einen Theil der Armee unter Wrangel
absorbirt. Daher hielt es der Hof für zweckmäßig, um die Gunst der Bürger-
wehr zu buhlen, die man gleichzeitig gegen die Arbeiter einzunehmen suchte, was

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[10/0014] zuvor in unendlicher Ferne zu stehen schien, war jetzt That und Wahrheit ge- worden. Dem neuen Wahlgesetz hatte die Revolution ihren Stempel aufgedrückt. Es sprach in seinem § 8 klipp und klar aus: „daß jeder Preuße, der das 24. Lebensjahr zurückgelegt und nicht den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Urtheils verloren hatte, in der Gemeinde, in der er seit sechs Monaten seinen Wohnsitz und Aufenthalt hatte, stimmberechtigter Urwähler sei, insofern er nicht aus öffent- lichen Mitteln Armenunterstützung beziehe.“ Das war also die Proklamirung des allgemeinen gleichen Wahlrechts, kraft dessen 3661993 über 24 Jahre alte Männer Landtagswähler wurden. Kurze Zeit darauf fanden die Wahlen statt und wurde der neugewählte Landtag am 22. Mai durch den König mit einer Thronrede eröffnet. Die Linke hatte die Mehrheit, aber sie war eine bunt zusammengewürfelte Mehrheit ohne festen Zusammenhalt und ohne den energischen Geist und die feste Entschlossenheit, die für eine Versammlung von solcher Bedeutung und in der gegebenen Situation nothwendig war. Statt sofort durch eine Reihe kräftiger Handlungen sich die Macht zu sichern und die entgegenwirkenden Kräfte einzuschüchtern und unschädlich zu machen, vertrödelte sie die kostbare Zeit durch weitschweifige Verhandlungen, und oft über Dinge von untergeordneter Bedeutung. Ganz anders die Kamarilla und die Militär- und Junkerpartei. Was seit den Märztagen geschehen war, erfüllte diese mit tiefster Entrüstung und einer geheimen Wuth, sie trachteten darnach, jedes brauchbare Mittel zu ergreifen, um das Geschehene nach Möglichkeit rückgängig zu machen. Dem liberalen Ministerium Camphausen, das aus waschlappigen Alt- liberalen zusammengesetzt war und dem schon aus diesem Grunde alles Zeug zu entschiedenem Handeln fehlte, legte man bei dem König jedes denkbare Hinderniß in den Weg. Der König selbst hatte sich, wie nach seiner ganzen Vergangenheit und bei einem preußischen König es nicht anders sein konnte, nur widerwillig und dem Zwange gehorchend auf die neuen Bahnen drängen lassen und ersehnte die Gelegenheit zur Umkehr. Das Bürgerthum war gespalten, die eigentliche Bourgeoisie hatte mit dem größten Unbehagen die Entwicklung der Dinge seit den Märztagen verfolgt und insbesondere beunruhigte sie, daß die Arbeiter eine immer größer werdende Selbst- ständigkeit zeigten und mit Nachdruck auf soziale Reformen drängten, für die bisher in der Kammer sehr wenig Sinn und Verständniß vorhanden war. Das Gespenst des Kommunismus ging um und ängstigte die stets und überall durch Mangel an Muth sich auszeichnende Bourgeoisie. Was bei ihr das Unbehagen erhöhte, war die große Arbeitslosigkeit, die allgemein herrschte, die Unzufriedenheit in den Massen schürte und die Berliner Behörden zur Jnangriffnahme öffentlicher Arbeiten zwang, um den Arbeitslosen einigen Verdienst zu gewähren. Man ließ unter anderem die sogenannten Rehberge abtragen, eine sehr unnütze und unproduktive Arbeit, von der die betheiligten Arbeiter den Namen „die Rehberger“ erhielten. Gleich- zeitig ließ der Arbeitsminister von Patow die Arbeitslosen in Schaaren aus der Haupt- stadt abschieben, um das revolutionäre Element zu entfernen. Oeffentliche Demonstrationen, die wegen der angekündigten Rückkehr des Prinzen von Preußen (des späteren Kaisers Wilhelm) aus England stattfanden und bei welchen die Arbeiter sich stark betheiligten, wie der Sturm auf das Zeughaus am 14. Juni trugen ferner dazu bei, bei der Bourgeoisie einen Zustand zu erzeugen, der sie aus der Angst und der Aufregung nicht mehr herauskommen ließ. Sie sehnte sich nach einem Retter. Unmittelbar nach dem Zeughaussturm hatte das Ministerium Camphausen seinen Abschied eingereicht, um von dem Ministerium Auerswald, das schon um eine Nüance weiter nach rechts stand, abgelöst zu werden. Um jene Zeit war aber Berlin und die Mark von Militär fast entblößt. Der Kampf gegen Dänemark wegen Schleswig-Holsteins war entbrannt und hatte einen Theil der Armee unter Wrangel absorbirt. Daher hielt es der Hof für zweckmäßig, um die Gunst der Bürger- wehr zu buhlen, die man gleichzeitig gegen die Arbeiter einzunehmen suchte, was  

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-10-30T15:09:45Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-10-30T15:09:45Z)

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Zitationshilfe: Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bebel_sozialdemokratie_1895/14>, abgerufen am 21.11.2024.