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Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895.

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daß Versammlungen von Privilegirten, Geistlichen, Adeligen
und Höchstbesteuerten, stets und aller Orten Gesetze gemacht haben,
die ihren eigenen Vortheil zunächst beförderten, so daß es beinahe
lächerlich ist, etwas Anderes von Jhnen zu erwarten
.

Bei allen deutschen Völkerschaften der früheren Zeit erhielt der junge Mann in
dem Augenblick, in dem er wehrfähig erklärt wurde, als Zeichen dafür die Wehre,
das Gewehre ausgehändigt. Das geschah in der Regel schon mit vollendetem
18. Lebensjahr. Dann erlangte er aber gleichzeitig das Recht, in den öffentlichen
Angelegenheiten mitzusprechen
. Er erhielt das Stimmrecht in der Volks-
versammlung, der Versammlung aller wehrfähigen freien Männer. Dieses Recht
wird noch gehandhabt in den Urkantonen der Schweiz und im Appenzellerland.

Jn der ganzen Schweiz erhält das Wahlrecht jeder Schweizerbürger in
allen öffentlichen Angelegenheiten (für die National-, Kantonal-, Gemeinderaths-
wahlen etc.) mit dem vollendeten 20. Lebensjahr.

Ebenso besitzt jeder Franzose mit vollendeten 21. Lebensjahr das Staats-
und Gemeindewahlrecht. Mit demselben Lebensalter beginnt das Wahlfähigkeits-
alter in England und den Vereinigten Staaten.

Aber wozu in die Ferne schweifen, liegen die Beispiele doch so nahe. Jn
Bayern ist jeder Staatsangehörige, wenn er sonst die Bedingungen der Wähl-
barkeit erfüllt, mit dem vollendeten 21. Lebensjahr Urwähler. Das gilt auch von
einer Reihe anderer Staaten, z. B. von Weimar. Jn Sachsen bestand 50 Jahre
lang für die Landgemeinde-Wahlen die Bestimmung, daß jeder über 21 Jahre alte
Gemeinde-Angehörige das Wahlrecht besaß. Die Bestimmung wurde in den
achtziger Jahren zunächst von der reaktionären zweiten Kammer abgeschafft; nicht,
weil sie sich nicht bewährt hatte, sondern wieder aus Angst vor der Sozial-
demokratie, die in die Gemeinderäthe gelangte
.

Jn den ersten Kammern werden die Mitglieder der privilegirten Geschlechter
zugelassen, sobald sie das 21. Lebensjahr vollendet haben, die Prinzen sogar schon
nach vollendetem 18. Lebensjahr. Was also die Sozialdemokratie verlangt, besteht
sowohl vielfach in Deutschland, wie in großen Kulturländern ersten Ranges all-
gemein. An allgemeiner Bildung steht aber das deutsche Volk, und speziell die
deutsche Arbeiterklasse, hinter keinem Volk und keiner Arbeiterklasse der Welt zurück,
und so kann man billiger und gerechter Weise dem deutschen Volke nicht verweigern,
was andere längst besitzen.

Freilich, in der nationalliberalen Partei, die stets die Fahne der Reaktion
allen Parteien voranträgt, besteht eine andere Ansicht. Den Muth, zu fordern, daß
das allgemeine Wahlrecht abgeschafft werde, besitzt man nicht überall, dagegen wäre
es keine Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts, wie ein Blatt dieser Partei im
Sommer 1894 mit echt jesuitischer Kasuistik bemerkte - und im politischen Jesuitismus
sind die Nationalliberalen Meister - wenn das Wahlfähigkeits-Alter erhöht würde.
Das Blatt schreibt: "Eine Verletzung des Staats-Grundgesetzes wäre es beispielsweise
nicht, wenn der Wunsch vorherrscht, daß das Wahlrecht allgemein in einem Alter
geübt wird, das ein verständiges Staatsbewußtsein verbürgt. Das Alter von
25 Jahren hat es heut zu Tage nicht mehr
. Die Sorge um die Existenz,
die Grundlage für eine sichere Berufsarbeit zu legen, absorbirt seine Jnteressen."

Der politische Jesuit, der dieses schrieb, will offenbar das stimmfähige Alter
auf das 30. Lebensjahr erhöhen, ein Vorschlag, der auch schon in antisemitischen
Blättern auftauchte. Aber woran der Herr nicht dachte, ist, daß die große
Mehrheit der Arbeiter vom 20.-30. Lebensjahr vergleichsweise am sorgen-
freiesten lebt; ihre schwersten Sorgen beginnen in der Regel nach dem 30. Lebens-
jahre, wenn die Familie wächst, und noch mehr mit dem 40. Lebensjahre und
später, wenn sie in den mit christlicher Liebe regierten Staats- und
Privatbetrieben kein Unterkommen mehr finden, weil man sie für zu
alt erachtet
. Ein weiteres Wort dem hier ausgesprochenen Gedanken entgegen-
zusetzen, erübrigt sich.



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daß Versammlungen von Privilegirten, Geistlichen, Adeligen
und Höchstbesteuerten, stets und aller Orten Gesetze gemacht haben,
die ihren eigenen Vortheil zunächst beförderten, so daß es beinahe
lächerlich ist, etwas Anderes von Jhnen zu erwarten
.

Bei allen deutschen Völkerschaften der früheren Zeit erhielt der junge Mann in
dem Augenblick, in dem er wehrfähig erklärt wurde, als Zeichen dafür die Wehre,
das Gewehre ausgehändigt. Das geschah in der Regel schon mit vollendetem
18. Lebensjahr. Dann erlangte er aber gleichzeitig das Recht, in den öffentlichen
Angelegenheiten mitzusprechen
. Er erhielt das Stimmrecht in der Volks-
versammlung, der Versammlung aller wehrfähigen freien Männer. Dieses Recht
wird noch gehandhabt in den Urkantonen der Schweiz und im Appenzellerland.

Jn der ganzen Schweiz erhält das Wahlrecht jeder Schweizerbürger in
allen öffentlichen Angelegenheiten (für die National-, Kantonal-, Gemeinderaths-
wahlen ꝛc.) mit dem vollendeten 20. Lebensjahr.

Ebenso besitzt jeder Franzose mit vollendeten 21. Lebensjahr das Staats-
und Gemeindewahlrecht. Mit demselben Lebensalter beginnt das Wahlfähigkeits-
alter in England und den Vereinigten Staaten.

Aber wozu in die Ferne schweifen, liegen die Beispiele doch so nahe. Jn
Bayern ist jeder Staatsangehörige, wenn er sonst die Bedingungen der Wähl-
barkeit erfüllt, mit dem vollendeten 21. Lebensjahr Urwähler. Das gilt auch von
einer Reihe anderer Staaten, z. B. von Weimar. Jn Sachsen bestand 50 Jahre
lang für die Landgemeinde-Wahlen die Bestimmung, daß jeder über 21 Jahre alte
Gemeinde-Angehörige das Wahlrecht besaß. Die Bestimmung wurde in den
achtziger Jahren zunächst von der reaktionären zweiten Kammer abgeschafft; nicht,
weil sie sich nicht bewährt hatte, sondern wieder aus Angst vor der Sozial-
demokratie, die in die Gemeinderäthe gelangte
.

Jn den ersten Kammern werden die Mitglieder der privilegirten Geschlechter
zugelassen, sobald sie das 21. Lebensjahr vollendet haben, die Prinzen sogar schon
nach vollendetem 18. Lebensjahr. Was also die Sozialdemokratie verlangt, besteht
sowohl vielfach in Deutschland, wie in großen Kulturländern ersten Ranges all-
gemein. An allgemeiner Bildung steht aber das deutsche Volk, und speziell die
deutsche Arbeiterklasse, hinter keinem Volk und keiner Arbeiterklasse der Welt zurück,
und so kann man billiger und gerechter Weise dem deutschen Volke nicht verweigern,
was andere längst besitzen.

Freilich, in der nationalliberalen Partei, die stets die Fahne der Reaktion
allen Parteien voranträgt, besteht eine andere Ansicht. Den Muth, zu fordern, daß
das allgemeine Wahlrecht abgeschafft werde, besitzt man nicht überall, dagegen wäre
es keine Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts, wie ein Blatt dieser Partei im
Sommer 1894 mit echt jesuitischer Kasuistik bemerkte – und im politischen Jesuitismus
sind die Nationalliberalen Meister – wenn das Wahlfähigkeits-Alter erhöht würde.
Das Blatt schreibt: „Eine Verletzung des Staats-Grundgesetzes wäre es beispielsweise
nicht, wenn der Wunsch vorherrscht, daß das Wahlrecht allgemein in einem Alter
geübt wird, das ein verständiges Staatsbewußtsein verbürgt. Das Alter von
25 Jahren hat es heut zu Tage nicht mehr
. Die Sorge um die Existenz,
die Grundlage für eine sichere Berufsarbeit zu legen, absorbirt seine Jnteressen.“

Der politische Jesuit, der dieses schrieb, will offenbar das stimmfähige Alter
auf das 30. Lebensjahr erhöhen, ein Vorschlag, der auch schon in antisemitischen
Blättern auftauchte. Aber woran der Herr nicht dachte, ist, daß die große
Mehrheit der Arbeiter vom 20.-30. Lebensjahr vergleichsweise am sorgen-
freiesten lebt; ihre schwersten Sorgen beginnen in der Regel nach dem 30. Lebens-
jahre, wenn die Familie wächst, und noch mehr mit dem 40. Lebensjahre und
später, wenn sie in den mit christlicher Liebe regierten Staats- und
Privatbetrieben kein Unterkommen mehr finden, weil man sie für zu
alt erachtet
. Ein weiteres Wort dem hier ausgesprochenen Gedanken entgegen-
zusetzen, erübrigt sich.



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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-10-30T15:09:45Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-10-30T15:09:45Z)

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Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bebel_sozialdemokratie_1895/53>, abgerufen am 23.11.2024.