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Bengel, Johann Albrecht: Abriß der so genannten Brüdergemeine. Bd. 1. Stuttgart, 1751.

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Vom Blut und Wunden.
§ 104.

Hieraus erhellet schon; daß die rechte Lehr-
Art vom Leiden selbs viel tiefer und weiter gehe,
als die Ausdrücke von den Wunden. Weil des
Ordinarii Vortrag von der heiligen Dreyei-
nigkeit und von Christo sehr unrichtig, und
der von dem Leiden Christi sehr gestümmelt ist,
so gibt es in den Zusammenhang der ganzen
heilsamen Lehre eine solche Reihe von Verwir-
rungen, die ihres gleichen nirgend hat. Er
setzet den himmlischen Vater bey seit, als ob
der Mensch nicht wider ihn, sondern allein wi-
der den Sohn gesündiget, und der Sohn also
den Menschen nicht mit dem Vater, sondern
allein mit sich selbs versühnet, der Vater aber
dem Sohn nur erlaubet hätte, im Fleisch zu
kommen und für uns zu leiden und zu sterben:
dahingegen die Schrift uns ausdrücklich leh-
ret, daß GOtt uns mit ihm selber versühnet
habe, und daß solches durch den Tod seines
Sohnes
geschehen sey. Also ist denen, die sich
in die äussere sinnliche Leidens-Umstände ver-
senken, der grosse Friedens-Rath, und das,
was zwischen GOtt und Christo vorgegangen
ist und noch vorgehet, fast fremde, und seines
Mittler-Amts, seines Priesterthums, ja auch
seines Todes, wird bey ihnen sehr wenig ge-
dacht. Denn der Mittler vermittelt die Sache
zwischen GOtt und den Menschen: der Prie-
ster führet uns nicht zu sich, sondern zu GOtt:
und ein Leichnam fällt in die Augen, der Tod

aber
G 4
Vom Blut und Wunden.
§ 104.

Hieraus erhellet ſchon; daß die rechte Lehr-
Art vom Leiden ſelbs viel tiefer und weiter gehe,
als die Ausdruͤcke von den Wunden. Weil des
Ordinarii Vortrag von der heiligen Dreyei-
nigkeit und von Chriſto ſehr unrichtig, und
der von dem Leiden Chriſti ſehr geſtuͤmmelt iſt,
ſo gibt es in den Zuſammenhang der ganzen
heilſamen Lehre eine ſolche Reihe von Verwir-
rungen, die ihres gleichen nirgend hat. Er
ſetzet den himmliſchen Vater bey ſeit, als ob
der Menſch nicht wider ihn, ſondern allein wi-
der den Sohn geſuͤndiget, und der Sohn alſo
den Menſchen nicht mit dem Vater, ſondern
allein mit ſich ſelbs verſuͤhnet, der Vater aber
dem Sohn nur erlaubet haͤtte, im Fleiſch zu
kommen und fuͤr uns zu leiden und zu ſterben:
dahingegen die Schrift uns ausdruͤcklich leh-
ret, daß GOtt uns mit ihm ſelber verſuͤhnet
habe, und daß ſolches durch den Tod ſeines
Sohnes
geſchehen ſey. Alſo iſt denen, die ſich
in die aͤuſſere ſinnliche Leidens-Umſtaͤnde ver-
ſenken, der groſſe Friedens-Rath, und das,
was zwiſchen GOtt und Chriſto vorgegangen
iſt und noch vorgehet, faſt fremde, und ſeines
Mittler-Amts, ſeines Prieſterthums, ja auch
ſeines Todes, wird bey ihnen ſehr wenig ge-
dacht. Denn der Mittler vermittelt die Sache
zwiſchen GOtt und den Menſchen: der Prie-
ſter fuͤhret uns nicht zu ſich, ſondern zu GOtt:
und ein Leichnam faͤllt in die Augen, der Tod

aber
G 4
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[103/0123] Vom Blut und Wunden. § 104. Hieraus erhellet ſchon; daß die rechte Lehr- Art vom Leiden ſelbs viel tiefer und weiter gehe, als die Ausdruͤcke von den Wunden. Weil des Ordinarii Vortrag von der heiligen Dreyei- nigkeit und von Chriſto ſehr unrichtig, und der von dem Leiden Chriſti ſehr geſtuͤmmelt iſt, ſo gibt es in den Zuſammenhang der ganzen heilſamen Lehre eine ſolche Reihe von Verwir- rungen, die ihres gleichen nirgend hat. Er ſetzet den himmliſchen Vater bey ſeit, als ob der Menſch nicht wider ihn, ſondern allein wi- der den Sohn geſuͤndiget, und der Sohn alſo den Menſchen nicht mit dem Vater, ſondern allein mit ſich ſelbs verſuͤhnet, der Vater aber dem Sohn nur erlaubet haͤtte, im Fleiſch zu kommen und fuͤr uns zu leiden und zu ſterben: dahingegen die Schrift uns ausdruͤcklich leh- ret, daß GOtt uns mit ihm ſelber verſuͤhnet habe, und daß ſolches durch den Tod ſeines Sohnes geſchehen ſey. Alſo iſt denen, die ſich in die aͤuſſere ſinnliche Leidens-Umſtaͤnde ver- ſenken, der groſſe Friedens-Rath, und das, was zwiſchen GOtt und Chriſto vorgegangen iſt und noch vorgehet, faſt fremde, und ſeines Mittler-Amts, ſeines Prieſterthums, ja auch ſeines Todes, wird bey ihnen ſehr wenig ge- dacht. Denn der Mittler vermittelt die Sache zwiſchen GOtt und den Menſchen: der Prie- ſter fuͤhret uns nicht zu ſich, ſondern zu GOtt: und ein Leichnam faͤllt in die Augen, der Tod aber G 4

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Zitationshilfe: Bengel, Johann Albrecht: Abriß der so genannten Brüdergemeine. Bd. 1. Stuttgart, 1751, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bengel_abriss01_1751/123>, abgerufen am 23.11.2024.