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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864.

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Der Volkscharakter.
gewohnt gewesen sich regieren zu lassen, und hat wohl niemals
den Gedanken gefasst, an der Herrschaft Antheil zu nehmen; dass
solches Verlangen nicht Wurzel schlägt, liegt wohl theils in seiner
uralten Scheidung vom Adel, theils auch in dem behaglichen Zu-
stande, in dem es bei mässiger Beschränkung lebt. Das Bedürfniss
nach Freiheit würde sowohl bei stärkerem Drucke als bei unge-
hemmter Entwickelung rasch aufkeimen -- aber die Siogun's haben
es verstanden dem Volke ein ruhiges, friedliches Leben zu bereiten,
und zugleich seiner inneren Entwickelung bestimmte Grenzen zu
setzen. Die Knechtschaft ist so uralt und so bequem, dass der
Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit nicht geboren
wird. Nach Heldentugenden würde man unter dem Volke vergebens
suchen, aber an Bürgertugenden ist es reich. Die Regierung übt
die strengste Aufsicht, und leidet keinen Uebergriff. Während man
nun glauben sollte, dass in Folge der unausgesetzten Beaufsichtigung
das Volk gedrückt und argwöhnisch wäre, findet man es im Gegen-
theil heiter, aufgeweckt und offen. Kein Vergehen bleibt verborgen,
aber der Redliche hat nichts zu befürchten. Die Strenge der Strafen,
und die allgemeine Mitverantwortlichkeit machen die Tugend zu-
nächst zur nothwendigen Gewohnheit -- das gute Gewissen erzeugt
einen heiteren Sinn, und auch das von der Obrigkeit anbefohlene
Beharren des Volkes bei seinen alten, einfachen, mässigen Gewohn-
heiten trägt wesentlich dazu bei, die Japaner zufrieden, lebensfroh
und frisch zu erhalten. Ihr Verkehr untereinander und vor Allem
das Familienleben ist so erfreulich, wie man es nur bei den ge-
bildeten
europäischen Völkern findet. Sie zeichnen sich aus durch
Höflichkeit und Freundlichkeit gegen die Ihrigen sowohl als gegen
Fremde, durch ein anständiges gleichmässiges Benehmen, durch
Frohsinn, Herzlichkeit und gute Laune; schlechte Manieren, Roh-
heit und Zänkereien bemerkt man selten. Die Frauen und Mädchen
aus dem Bürgerstande sind züchtig und unbefangen 131), die Männer
begegnen ihnen zart und ehrerbietig; vor Allem aber ist die Behand-
lung der Kinder auf das äusserste sorgsam und liebevoll. Der
Unterricht der Jugend im Lesen und Schreiben, in der vaterländi-
schen Geschichte und Moralphilosophie wird sehr eifrig betrieben,

131) Schon im siebzehnten Jahrhundert sagt Caron: "Der Kaufleute und Burger
Weiber sitzen im Haus dagegen, ihr Haus mit den Dienstmägden verpflegende; sie
werden aber anderst nicht als züchtig und mit Ehrerbietung von den Leuten ange-
sprochen."

Der Volkscharakter.
gewohnt gewesen sich regieren zu lassen, und hat wohl niemals
den Gedanken gefasst, an der Herrschaft Antheil zu nehmen; dass
solches Verlangen nicht Wurzel schlägt, liegt wohl theils in seiner
uralten Scheidung vom Adel, theils auch in dem behaglichen Zu-
stande, in dem es bei mässiger Beschränkung lebt. Das Bedürfniss
nach Freiheit würde sowohl bei stärkerem Drucke als bei unge-
hemmter Entwickelung rasch aufkeimen — aber die Siogun’s haben
es verstanden dem Volke ein ruhiges, friedliches Leben zu bereiten,
und zugleich seiner inneren Entwickelung bestimmte Grenzen zu
setzen. Die Knechtschaft ist so uralt und so bequem, dass der
Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit nicht geboren
wird. Nach Heldentugenden würde man unter dem Volke vergebens
suchen, aber an Bürgertugenden ist es reich. Die Regierung übt
die strengste Aufsicht, und leidet keinen Uebergriff. Während man
nun glauben sollte, dass in Folge der unausgesetzten Beaufsichtigung
das Volk gedrückt und argwöhnisch wäre, findet man es im Gegen-
theil heiter, aufgeweckt und offen. Kein Vergehen bleibt verborgen,
aber der Redliche hat nichts zu befürchten. Die Strenge der Strafen,
und die allgemeine Mitverantwortlichkeit machen die Tugend zu-
nächst zur nothwendigen Gewohnheit — das gute Gewissen erzeugt
einen heiteren Sinn, und auch das von der Obrigkeit anbefohlene
Beharren des Volkes bei seinen alten, einfachen, mässigen Gewohn-
heiten trägt wesentlich dazu bei, die Japaner zufrieden, lebensfroh
und frisch zu erhalten. Ihr Verkehr untereinander und vor Allem
das Familienleben ist so erfreulich, wie man es nur bei den ge-
bildeten
europäischen Völkern findet. Sie zeichnen sich aus durch
Höflichkeit und Freundlichkeit gegen die Ihrigen sowohl als gegen
Fremde, durch ein anständiges gleichmässiges Benehmen, durch
Frohsinn, Herzlichkeit und gute Laune; schlechte Manieren, Roh-
heit und Zänkereien bemerkt man selten. Die Frauen und Mädchen
aus dem Bürgerstande sind züchtig und unbefangen 131), die Männer
begegnen ihnen zart und ehrerbietig; vor Allem aber ist die Behand-
lung der Kinder auf das äusserste sorgsam und liebevoll. Der
Unterricht der Jugend im Lesen und Schreiben, in der vaterländi-
schen Geschichte und Moralphilosophie wird sehr eifrig betrieben,

131) Schon im siebzehnten Jahrhundert sagt Caron: »Der Kaufleute und Burger
Weiber sitzen im Haus dagegen, ihr Haus mit den Dienstmägden verpflegende; sie
werden aber anderst nicht als züchtig und mit Ehrerbietung von den Leuten ange-
sprochen.«
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[130/0160] Der Volkscharakter. gewohnt gewesen sich regieren zu lassen, und hat wohl niemals den Gedanken gefasst, an der Herrschaft Antheil zu nehmen; dass solches Verlangen nicht Wurzel schlägt, liegt wohl theils in seiner uralten Scheidung vom Adel, theils auch in dem behaglichen Zu- stande, in dem es bei mässiger Beschränkung lebt. Das Bedürfniss nach Freiheit würde sowohl bei stärkerem Drucke als bei unge- hemmter Entwickelung rasch aufkeimen — aber die Siogun’s haben es verstanden dem Volke ein ruhiges, friedliches Leben zu bereiten, und zugleich seiner inneren Entwickelung bestimmte Grenzen zu setzen. Die Knechtschaft ist so uralt und so bequem, dass der Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit nicht geboren wird. Nach Heldentugenden würde man unter dem Volke vergebens suchen, aber an Bürgertugenden ist es reich. Die Regierung übt die strengste Aufsicht, und leidet keinen Uebergriff. Während man nun glauben sollte, dass in Folge der unausgesetzten Beaufsichtigung das Volk gedrückt und argwöhnisch wäre, findet man es im Gegen- theil heiter, aufgeweckt und offen. Kein Vergehen bleibt verborgen, aber der Redliche hat nichts zu befürchten. Die Strenge der Strafen, und die allgemeine Mitverantwortlichkeit machen die Tugend zu- nächst zur nothwendigen Gewohnheit — das gute Gewissen erzeugt einen heiteren Sinn, und auch das von der Obrigkeit anbefohlene Beharren des Volkes bei seinen alten, einfachen, mässigen Gewohn- heiten trägt wesentlich dazu bei, die Japaner zufrieden, lebensfroh und frisch zu erhalten. Ihr Verkehr untereinander und vor Allem das Familienleben ist so erfreulich, wie man es nur bei den ge- bildeten europäischen Völkern findet. Sie zeichnen sich aus durch Höflichkeit und Freundlichkeit gegen die Ihrigen sowohl als gegen Fremde, durch ein anständiges gleichmässiges Benehmen, durch Frohsinn, Herzlichkeit und gute Laune; schlechte Manieren, Roh- heit und Zänkereien bemerkt man selten. Die Frauen und Mädchen aus dem Bürgerstande sind züchtig und unbefangen 131), die Männer begegnen ihnen zart und ehrerbietig; vor Allem aber ist die Behand- lung der Kinder auf das äusserste sorgsam und liebevoll. Der Unterricht der Jugend im Lesen und Schreiben, in der vaterländi- schen Geschichte und Moralphilosophie wird sehr eifrig betrieben, 131) Schon im siebzehnten Jahrhundert sagt Caron: »Der Kaufleute und Burger Weiber sitzen im Haus dagegen, ihr Haus mit den Dienstmägden verpflegende; sie werden aber anderst nicht als züchtig und mit Ehrerbietung von den Leuten ange- sprochen.«

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien01_1864/160>, abgerufen am 27.11.2024.