Es wäre von grosser Bedeutung, wenn man sich genaue Kenntniss von der inneren politischen Lage Japans zur Zeit des Eindringens der westlichen Nationen und von der Entwickelung der Verhältnisse seit diesem Ereigniss verschaffen könnte. Dass die Macht des Siogun schon seit einem halben Jahrhundert, vielleicht schon länger im Sinken war, ist unzweifelhaft. Unter der langen Regierung des Jye-nari, der 1787 den Thron bestieg, scheinen die Zügel erschlafft, und namentlich die Einrichtungen ausser Gebrauch gekommen zu sein, durch welche der Lehnsadel in Zaum gehalten wurde. Sein Nachfolger bemühte sich zwar bei Antritt der Re- gierung (1842), das alte System mit voller Strenge zur Geltung zu bringen, -- er schickte wieder regelmässig Aufpasser an die Höfe der Lehnsfürsten, liess die Schauspielhäuser schliessen, untersagte alle öffentlichen Lustbarkeiten und beschränkte den Kleiderluxus -- denn auch beim Volke hatten sich Freiheiten eingeschlichen, welche die Zucht und Sitte früherer Zeiten nicht kannte, -- aber die alte Ordnung scheint nie wieder rechten Bestand gewonnen zu haben und bei dem Erscheinen Perry's gänzlich zusammengebrochen zu sein. Wo seitdem der Schwerpunct der Macht liegt, wie die kämpfen- den Partheien zusammengesetzt und welche ihre Tendenzen sind, kann man nicht mit Sicherheit erfahren. Bei der Wendung, welche die Dinge in neuester Zeit genommen haben, sollte man denken, jeder Tag müsste neue Aufschlüsse über die politische Lage des Landes bringen, und doch erklären die fremden Vertreter in Japan auch heut noch, im Dunkeln über den Gang der Ereignisse zu sein. Die Bewegung dauert fort und scheint an Intensität gewonnen zu haben; aber die jetzige Stellung des Siogun zu den Daimio's und ihre Absichten den Fremden gegenüber bleiben räthsel- haft. Allem Anscheine nach gab es am Hofe schon zur Zeit von Perry's erster Landung (1853) eine der herrschenden Linie feind- liche Parthei, an deren Spitze einer der Titularbrüder des Siogun, der Fürst von Mito, stand, und der sich alle Daimio's an- schlossen, welche entweder wirklich der Zulassung der Fremden entgegen waren, oder unter diesem Vorwande den Umsturz des bestehenden Regimentes herbeizuführen und die Selbstständigkeit wieder zu gewinnen dachten, deren sich ihre Vorfahren im funf- zehnten und sechszehnten Jahrhundert erfreuten. Diese Parthei hat wiederholt und zum Theil gewaltsame Versuche gemacht, um an das Ruder zu gelangen; sie ist stark genug, um die Macht des
Die neuesten politischen Ereignisse in Japan.
Es wäre von grosser Bedeutung, wenn man sich genaue Kenntniss von der inneren politischen Lage Japans zur Zeit des Eindringens der westlichen Nationen und von der Entwickelung der Verhältnisse seit diesem Ereigniss verschaffen könnte. Dass die Macht des Siogun schon seit einem halben Jahrhundert, vielleicht schon länger im Sinken war, ist unzweifelhaft. Unter der langen Regierung des Jye-nari, der 1787 den Thron bestieg, scheinen die Zügel erschlafft, und namentlich die Einrichtungen ausser Gebrauch gekommen zu sein, durch welche der Lehnsadel in Zaum gehalten wurde. Sein Nachfolger bemühte sich zwar bei Antritt der Re- gierung (1842), das alte System mit voller Strenge zur Geltung zu bringen, — er schickte wieder regelmässig Aufpasser an die Höfe der Lehnsfürsten, liess die Schauspielhäuser schliessen, untersagte alle öffentlichen Lustbarkeiten und beschränkte den Kleiderluxus — denn auch beim Volke hatten sich Freiheiten eingeschlichen, welche die Zucht und Sitte früherer Zeiten nicht kannte, — aber die alte Ordnung scheint nie wieder rechten Bestand gewonnen zu haben und bei dem Erscheinen Perry’s gänzlich zusammengebrochen zu sein. Wo seitdem der Schwerpunct der Macht liegt, wie die kämpfen- den Partheien zusammengesetzt und welche ihre Tendenzen sind, kann man nicht mit Sicherheit erfahren. Bei der Wendung, welche die Dinge in neuester Zeit genommen haben, sollte man denken, jeder Tag müsste neue Aufschlüsse über die politische Lage des Landes bringen, und doch erklären die fremden Vertreter in Japan auch heut noch, im Dunkeln über den Gang der Ereignisse zu sein. Die Bewegung dauert fort und scheint an Intensität gewonnen zu haben; aber die jetzige Stellung des Siogun zu den Daïmio’s und ihre Absichten den Fremden gegenüber bleiben räthsel- haft. Allem Anscheine nach gab es am Hofe schon zur Zeit von Perry’s erster Landung (1853) eine der herrschenden Linie feind- liche Parthei, an deren Spitze einer der Titularbrüder des Siogun, der Fürst von Mito, stand, und der sich alle Daïmio’s an- schlossen, welche entweder wirklich der Zulassung der Fremden entgegen waren, oder unter diesem Vorwande den Umsturz des bestehenden Regimentes herbeizuführen und die Selbstständigkeit wieder zu gewinnen dachten, deren sich ihre Vorfahren im funf- zehnten und sechszehnten Jahrhundert erfreuten. Diese Parthei hat wiederholt und zum Theil gewaltsame Versuche gemacht, um an das Ruder zu gelangen; sie ist stark genug, um die Macht des
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[183/0213]
Die neuesten politischen Ereignisse in Japan.
Es wäre von grosser Bedeutung, wenn man sich genaue
Kenntniss von der inneren politischen Lage Japans zur Zeit des
Eindringens der westlichen Nationen und von der Entwickelung der
Verhältnisse seit diesem Ereigniss verschaffen könnte. Dass die
Macht des Siogun schon seit einem halben Jahrhundert, vielleicht
schon länger im Sinken war, ist unzweifelhaft. Unter der langen
Regierung des Jye-nari, der 1787 den Thron bestieg, scheinen die
Zügel erschlafft, und namentlich die Einrichtungen ausser Gebrauch
gekommen zu sein, durch welche der Lehnsadel in Zaum gehalten
wurde. Sein Nachfolger bemühte sich zwar bei Antritt der Re-
gierung (1842), das alte System mit voller Strenge zur Geltung
zu bringen, — er schickte wieder regelmässig Aufpasser an die Höfe
der Lehnsfürsten, liess die Schauspielhäuser schliessen, untersagte
alle öffentlichen Lustbarkeiten und beschränkte den Kleiderluxus —
denn auch beim Volke hatten sich Freiheiten eingeschlichen, welche
die Zucht und Sitte früherer Zeiten nicht kannte, — aber die alte
Ordnung scheint nie wieder rechten Bestand gewonnen zu haben
und bei dem Erscheinen Perry’s gänzlich zusammengebrochen zu
sein. Wo seitdem der Schwerpunct der Macht liegt, wie die kämpfen-
den Partheien zusammengesetzt und welche ihre Tendenzen sind,
kann man nicht mit Sicherheit erfahren. Bei der Wendung, welche
die Dinge in neuester Zeit genommen haben, sollte man denken,
jeder Tag müsste neue Aufschlüsse über die politische Lage
des Landes bringen, und doch erklären die fremden Vertreter in
Japan auch heut noch, im Dunkeln über den Gang der Ereignisse
zu sein. Die Bewegung dauert fort und scheint an Intensität
gewonnen zu haben; aber die jetzige Stellung des Siogun zu den
Daïmio’s und ihre Absichten den Fremden gegenüber bleiben räthsel-
haft. Allem Anscheine nach gab es am Hofe schon zur Zeit von
Perry’s erster Landung (1853) eine der herrschenden Linie feind-
liche Parthei, an deren Spitze einer der Titularbrüder des Siogun,
der Fürst von Mito, stand, und der sich alle Daïmio’s an-
schlossen, welche entweder wirklich der Zulassung der Fremden
entgegen waren, oder unter diesem Vorwande den Umsturz des
bestehenden Regimentes herbeizuführen und die Selbstständigkeit
wieder zu gewinnen dachten, deren sich ihre Vorfahren im funf-
zehnten und sechszehnten Jahrhundert erfreuten. Diese Parthei hat
wiederholt und zum Theil gewaltsame Versuche gemacht, um an
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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien01_1864/213>, abgerufen am 24.11.2024.
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