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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 2. Berlin, 1866.

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Krankheiten. Leichensectionen. Verkehr mit Daimio's. XI.
Es fehlte indessen nicht an Praxis in der Stadt und Umgegend.
Phthisis und Scrophulosis waren häufig und wurden von dem Arzt
vorzüglich der unzureichenden Nahrung zugeschrieben 3); der Typhus
kam sporadisch vor und Augenkrankheiten in grosser Anzahl. Mit
dem Hospital sollte ein chemisches Laboratorium und ein Sections-
saal verbunden werden. Bis zur Zeit unserer Anwesenheit waren
erst zwei Leichen zergliedert worden; dieser Punct machte dem
holländischen Arzte die grössten Schwierigkeiten. Er suchte von
Anfang seiner Thätigkeit an den japanischen Behörden die Unmög-
lichkeit begreiflich zu machen, ohne Leichensectionen mit Vortheil
zu dociren, und liess nicht ab mit dringenden Vorstellungen; aber
die Berührung der Leichen gilt dem Japaner für verunreinigend,
und vor Allem sträubt sich die Verwandtenliebe gegen jede Zer-
fleischung des todten Körpers. Die Behörden wagten nicht das
Volksgefühl in diesem Puncte zu verletzen und fanden nach langem
Besinnen endlich folgenden Ausweg. Man erinnert sich, dass bei
dem Laternenfeste in Nangasaki 4) die Seelen der Verstorbenen von
deren Verwandten auf den Friedhöfen eingeholt und in der letzten
Nacht vor allen Gräbern Leuchten angezündet werden. Letzteres
war bis dahin für die Gräber der Hingerichteten verboten, und
diese Ausschliessung soll deren Hinterbliebenen immer schmerzlich
gewesen sein. Jetzt erlaubte die Regierung das Aufstecken von
Laternen vor den Gräbern der Missethäter, liess aber dafür ihre
Leichname der ärztlichen Schule zur Section überweisen. So war
beiden Theilen geholfen.

Herr Pompe war wiederholt von den Daimio's der benach-
barten Fürstenthümer auf deren Landsitze eingeladen worden,
um über wissenschaftliche und industrielle Fragen Auskunft zu
geben; aber dieser Verkehr blieb sehr beschränkt, denn der be-
treffende Landesfürst bedurfte zu einer solchen Zusammenkunft
immer der ausdrücklichen Erlaubniss der Regierung, welche jedesmal
einen besonderen Aufpasser dazu sandte. Dieser musste allen
Besprechungen beiwohnen und die Mittheilungen genau aufzeichnen.
Doctor Pompe hatte trotzdem lange Listen wissenschaftlicher und
technischer Fragen zu beantworten, und fand namentlich in dem

3) Nach Dr. Pompe's Angaben isst der japanische Arbeiter täglich etwa 500 Gramm
Reis, 150 Gramm Fisch, 150 bis 200 Gramm gesalzenes Grün nebst etwas Soya
und Obst, also etwa 35 Gramm Eiweissstoff.
4) S. S. 21.

Krankheiten. Leichensectionen. Verkehr mit Daïmio’s. XI.
Es fehlte indessen nicht an Praxis in der Stadt und Umgegend.
Phthisis und Scrophulosis waren häufig und wurden von dem Arzt
vorzüglich der unzureichenden Nahrung zugeschrieben 3); der Typhus
kam sporadisch vor und Augenkrankheiten in grosser Anzahl. Mit
dem Hospital sollte ein chemisches Laboratorium und ein Sections-
saal verbunden werden. Bis zur Zeit unserer Anwesenheit waren
erst zwei Leichen zergliedert worden; dieser Punct machte dem
holländischen Arzte die grössten Schwierigkeiten. Er suchte von
Anfang seiner Thätigkeit an den japanischen Behörden die Unmög-
lichkeit begreiflich zu machen, ohne Leichensectionen mit Vortheil
zu dociren, und liess nicht ab mit dringenden Vorstellungen; aber
die Berührung der Leichen gilt dem Japaner für verunreinigend,
und vor Allem sträubt sich die Verwandtenliebe gegen jede Zer-
fleischung des todten Körpers. Die Behörden wagten nicht das
Volksgefühl in diesem Puncte zu verletzen und fanden nach langem
Besinnen endlich folgenden Ausweg. Man erinnert sich, dass bei
dem Laternenfeste in Naṅgasaki 4) die Seelen der Verstorbenen von
deren Verwandten auf den Friedhöfen eingeholt und in der letzten
Nacht vor allen Gräbern Leuchten angezündet werden. Letzteres
war bis dahin für die Gräber der Hingerichteten verboten, und
diese Ausschliessung soll deren Hinterbliebenen immer schmerzlich
gewesen sein. Jetzt erlaubte die Regierung das Aufstecken von
Laternen vor den Gräbern der Missethäter, liess aber dafür ihre
Leichname der ärztlichen Schule zur Section überweisen. So war
beiden Theilen geholfen.

Herr Pompe war wiederholt von den Daïmio’s der benach-
barten Fürstenthümer auf deren Landsitze eingeladen worden,
um über wissenschaftliche und industrielle Fragen Auskunft zu
geben; aber dieser Verkehr blieb sehr beschränkt, denn der be-
treffende Landesfürst bedurfte zu einer solchen Zusammenkunft
immer der ausdrücklichen Erlaubniss der Regierung, welche jedesmal
einen besonderen Aufpasser dazu sandte. Dieser musste allen
Besprechungen beiwohnen und die Mittheilungen genau aufzeichnen.
Doctor Pompe hatte trotzdem lange Listen wissenschaftlicher und
technischer Fragen zu beantworten, und fand namentlich in dem

3) Nach Dr. Pompe’s Angaben isst der japanische Arbeiter täglich etwa 500 Gramm
Reis, 150 Gramm Fisch, 150 bis 200 Gramm gesalzenes Grün nebst etwas Soya
und Obst, also etwa 35 Gramm Eiweissstoff.
4) S. S. 21.
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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 2. Berlin, 1866, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien02_1866/216>, abgerufen am 24.11.2024.