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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 2. Berlin, 1866.

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Kami-Priester. VI.
Einsamkeit. Manche Tempel sind wegen ihrer Nachtigallen, schön-
gefiederten Enten oder ähnlichen Gethiers berühmt, andere durch
Legenden und historische Traditionen merkwürdig. Hier wird dem
andächtigen Pilger der alte Stamm einer Tanne gezeigt, welche der
heilige Tensin pflanzte, dort ein Bambusstrauch, der Angelruthe
eines berühmten Helden entsprossen, oder der Kirschbaum, wo ein
liebendes Mädchen ihr thränennasses Gewand aufhing, ehe sie sich
verzweifelnd in das Meer stürzte, das ihren Geliebten verschlang.

Die Kami-Höfe sind mit ihren schönen Umgebungen die be-
liebtesten Lustorte aller Volksclassen. Man ergeht sich im kühlen
Haine mit Frau und Kind, lagert mit den Freunden schmausend und
Verse machend am Wasser, füttert das Hegewild und die Goldfische,
oder geniesst träumend der herrlichen Aussicht. Die gastfreien
Priester nehmen Theil an allen Freuden; sie gehören meist den
höheren Ständen an und sind verheirathet, gehen im gewöhnlichen
Leben bewaffnet und unterscheiden sich in Haartracht und Kleidung
wenig von den Laien; bei Feierlichkeiten dagegen soll ihr Anzug
der Hoftracht von Miako gleichen, die Oberpriester führen dann
den krummen Säbel und die Ceremonienmütze Kamuli. Die Priester-
frauen tragen ihr Haar nach Art der Mikado-Damen; sie sind
Gehülfinnen beim Gottesdienst, reinigen und segnen die Hallen,
verrichten ausschliesslich die Einsegnung der Neugeborenen und
führen in Gemeinschaft mit Priestern und Laien die heiligen Gesänge
aus. Die Beschäftigung der Priester besteht neben dem Darbringen
der Opfer und Wahrnehmung der Festgebräuche vorzüglich im
Empfange der Pilger und Verfertigung mannichfacher Talismane,
Ablasszettel und Schriften über die Merkwürdigkeiten des Kami-Hofes.
An den Feiertagen halten sie Predigten, lesen Legenden und Wunder-
geschichten vor und legen sie den Andächtigen aus. Beim Gepränge
der Festprocessionen werden viele Laien verwendet und dazu in
kostbare, im Tempel verwahrte Gewänder gekleidet. -- Die Opfer
bestehen meist in Esswaaren: Reis, Kuchen, Fischen, Früchten,
Thee und Saki. Warmblütige Thiere sollen jetzt nur selten geopfert
werden, auch steht das Thieropfer mit dem Wesen des Cultus in
Widerspruch. In den ältesten Zeiten aber wären der Sage nach
zur Versöhnung böser Geister selbst Menschen geschlachtet worden.

Wer seine Andacht im Tempel verrichtet, soll sich vorher ge-
hörig reinigen; er sprengt Wasser aus dem davor aufgestellten Becken,
tritt an den Eingang und schlägt mit dem dort herabhängenden Seil

Kami-Priester. VI.
Einsamkeit. Manche Tempel sind wegen ihrer Nachtigallen, schön-
gefiederten Enten oder ähnlichen Gethiers berühmt, andere durch
Legenden und historische Traditionen merkwürdig. Hier wird dem
andächtigen Pilger der alte Stamm einer Tanne gezeigt, welche der
heilige Tensin pflanzte, dort ein Bambusstrauch, der Angelruthe
eines berühmten Helden entsprossen, oder der Kirschbaum, wo ein
liebendes Mädchen ihr thränennasses Gewand aufhing, ehe sie sich
verzweifelnd in das Meer stürzte, das ihren Geliebten verschlang.

Die Kami-Höfe sind mit ihren schönen Umgebungen die be-
liebtesten Lustorte aller Volksclassen. Man ergeht sich im kühlen
Haine mit Frau und Kind, lagert mit den Freunden schmausend und
Verse machend am Wasser, füttert das Hegewild und die Goldfische,
oder geniesst träumend der herrlichen Aussicht. Die gastfreien
Priester nehmen Theil an allen Freuden; sie gehören meist den
höheren Ständen an und sind verheirathet, gehen im gewöhnlichen
Leben bewaffnet und unterscheiden sich in Haartracht und Kleidung
wenig von den Laien; bei Feierlichkeiten dagegen soll ihr Anzug
der Hoftracht von Miako gleichen, die Oberpriester führen dann
den krummen Säbel und die Ceremonienmütze Kamuli. Die Priester-
frauen tragen ihr Haar nach Art der Mikado-Damen; sie sind
Gehülfinnen beim Gottesdienst, reinigen und segnen die Hallen,
verrichten ausschliesslich die Einsegnung der Neugeborenen und
führen in Gemeinschaft mit Priestern und Laien die heiligen Gesänge
aus. Die Beschäftigung der Priester besteht neben dem Darbringen
der Opfer und Wahrnehmung der Festgebräuche vorzüglich im
Empfange der Pilger und Verfertigung mannichfacher Talismane,
Ablasszettel und Schriften über die Merkwürdigkeiten des Kami-Hofes.
An den Feiertagen halten sie Predigten, lesen Legenden und Wunder-
geschichten vor und legen sie den Andächtigen aus. Beim Gepränge
der Festprocessionen werden viele Laien verwendet und dazu in
kostbare, im Tempel verwahrte Gewänder gekleidet. — Die Opfer
bestehen meist in Esswaaren: Reis, Kuchen, Fischen, Früchten,
Thee und Saki. Warmblütige Thiere sollen jetzt nur selten geopfert
werden, auch steht das Thieropfer mit dem Wesen des Cultus in
Widerspruch. In den ältesten Zeiten aber wären der Sage nach
zur Versöhnung böser Geister selbst Menschen geschlachtet worden.

Wer seine Andacht im Tempel verrichtet, soll sich vorher ge-
hörig reinigen; er sprengt Wasser aus dem davor aufgestellten Becken,
tritt an den Eingang und schlägt mit dem dort herabhängenden Seil

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[30/0050] Kami-Priester. VI. Einsamkeit. Manche Tempel sind wegen ihrer Nachtigallen, schön- gefiederten Enten oder ähnlichen Gethiers berühmt, andere durch Legenden und historische Traditionen merkwürdig. Hier wird dem andächtigen Pilger der alte Stamm einer Tanne gezeigt, welche der heilige Tensin pflanzte, dort ein Bambusstrauch, der Angelruthe eines berühmten Helden entsprossen, oder der Kirschbaum, wo ein liebendes Mädchen ihr thränennasses Gewand aufhing, ehe sie sich verzweifelnd in das Meer stürzte, das ihren Geliebten verschlang. Die Kami-Höfe sind mit ihren schönen Umgebungen die be- liebtesten Lustorte aller Volksclassen. Man ergeht sich im kühlen Haine mit Frau und Kind, lagert mit den Freunden schmausend und Verse machend am Wasser, füttert das Hegewild und die Goldfische, oder geniesst träumend der herrlichen Aussicht. Die gastfreien Priester nehmen Theil an allen Freuden; sie gehören meist den höheren Ständen an und sind verheirathet, gehen im gewöhnlichen Leben bewaffnet und unterscheiden sich in Haartracht und Kleidung wenig von den Laien; bei Feierlichkeiten dagegen soll ihr Anzug der Hoftracht von Miako gleichen, die Oberpriester führen dann den krummen Säbel und die Ceremonienmütze Kamuli. Die Priester- frauen tragen ihr Haar nach Art der Mikado-Damen; sie sind Gehülfinnen beim Gottesdienst, reinigen und segnen die Hallen, verrichten ausschliesslich die Einsegnung der Neugeborenen und führen in Gemeinschaft mit Priestern und Laien die heiligen Gesänge aus. Die Beschäftigung der Priester besteht neben dem Darbringen der Opfer und Wahrnehmung der Festgebräuche vorzüglich im Empfange der Pilger und Verfertigung mannichfacher Talismane, Ablasszettel und Schriften über die Merkwürdigkeiten des Kami-Hofes. An den Feiertagen halten sie Predigten, lesen Legenden und Wunder- geschichten vor und legen sie den Andächtigen aus. Beim Gepränge der Festprocessionen werden viele Laien verwendet und dazu in kostbare, im Tempel verwahrte Gewänder gekleidet. — Die Opfer bestehen meist in Esswaaren: Reis, Kuchen, Fischen, Früchten, Thee und Saki. Warmblütige Thiere sollen jetzt nur selten geopfert werden, auch steht das Thieropfer mit dem Wesen des Cultus in Widerspruch. In den ältesten Zeiten aber wären der Sage nach zur Versöhnung böser Geister selbst Menschen geschlachtet worden. Wer seine Andacht im Tempel verrichtet, soll sich vorher ge- hörig reinigen; er sprengt Wasser aus dem davor aufgestellten Becken, tritt an den Eingang und schlägt mit dem dort herabhängenden Seil

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 2. Berlin, 1866, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien02_1866/50>, abgerufen am 21.11.2024.