Die Umgebung von Shang-hae ist flach und reizlos, eine unabsehbare Alluvial-Ebene, die sich südlich bis zum Tsien-tan und der Bai von Han-tsau, nördlich bis Wae-gan am Südufer des Gelben Stromes und von der See etwa 30 Meilen westlich land- einwärts erstreckt. So gross wie das Königreich Portugal umfasst sie den grössten Theil der Provinz Kian-su und einen Theil von Tse-kian. Der Yan-tse, dem sie ihren Ursprung dankt, schiebt seinen Bau immer weiter ins Meer hinaus; was heut als niedrige Sandbank nur zur Fluthzeit aus dem Wasser taucht, wird nach wenig Jahren bewohnt und angebaut. Der grösste Theil der Ebene soll kaum zehn Fuss über der höchsten Springfluth, viele Stellen unter deren Niveau liegen. Der Yan-tse-kian durchschneidet sie, nach Osten strömend, ungefähr in der Mitte, der Grosse Canal kreuzt denselben in ihrer westlichen Hälfte. Ein dichtes Netzwerk von Rinnsalen, die weder Flüsse noch Canäle zu nennen sind, durchfurcht die ganze ungeheure Fläche von der Han-tsau-Bai bis zum Gelben Fluss. Dieser liegt höher; mächtige Dämme trennen ihn von der Ebene; hier erst müssen die Canalboote durch Schleu- sen gehen, während südlich bis zu der etwa 70 Meilen entfernten Han-tsau-Bai der Wasserstand durch den Yan-tse-kian und die Meeresfluthen geregelt wird. Keine Schleuse hemmt den Boots- verkehr in diesem weiten Gebiet; es ist der fruchtbarste und volk- reichste Landstrich von China.
Die Wasserläufe in dieser Ebene sind meist die natürlichen Rinnsale, welche bei deren allmäliger Entstehung als Verkehrs- wege und zum Abfluss des Regenwassers offen gehalten wurden; die grösseren, wie der bei Shang-hae fliessende Wu-son, gleichen Strömen; die kleinsten zu Bewässerung der Felder und Fortschaf- fung der Aernte dienenden werden auf kurzer Planke überschritten. Nur an wenigen Stellen erheben sich Felshügel einzeln oder in kleinen Gruppen aus der Ebene, einst Inseln, wie die vor der Mün- dung des Yan-tse liegenden Rugged-islands. Vom Thurm der eng- lischen Kirche in Shang-hae gewahrt man bei heller Luft solche Höhen am fernsten Horizont.
Selten lockte das Wetter zu Spaziergängen; dann wanderte man auf schmalen Pfaden die Rinnsale entlang. Die Brücken be- stehen hier meist aus einer schmalen Steinschwelle; -- sie müssen aus weiter Ferne herbeigeschafft sein; denn erratische Blöcke kann es nicht geben, da, abgesehen von der südlichen Lage, die Ebene
Die Alluvialebne des Yaṅ-tse. XIII.
Die Umgebung von Shang-hae ist flach und reizlos, eine unabsehbare Alluvial-Ebene, die sich südlich bis zum Tsien-taṅ und der Bai von Haṅ-tšau, nördlich bis Wae-gan am Südufer des Gelben Stromes und von der See etwa 30 Meilen westlich land- einwärts erstreckt. So gross wie das Königreich Portugal umfasst sie den grössten Theil der Provinz Kiaṅ-su und einen Theil von Tše-kiaṅ. Der Yaṅ-tse, dem sie ihren Ursprung dankt, schiebt seinen Bau immer weiter ins Meer hinaus; was heut als niedrige Sandbank nur zur Fluthzeit aus dem Wasser taucht, wird nach wenig Jahren bewohnt und angebaut. Der grösste Theil der Ebene soll kaum zehn Fuss über der höchsten Springfluth, viele Stellen unter deren Niveau liegen. Der Yaṅ-tse-kiaṅ durchschneidet sie, nach Osten strömend, ungefähr in der Mitte, der Grosse Canal kreuzt denselben in ihrer westlichen Hälfte. Ein dichtes Netzwerk von Rinnsalen, die weder Flüsse noch Canäle zu nennen sind, durchfurcht die ganze ungeheure Fläche von der Haṅ-tšau-Bai bis zum Gelben Fluss. Dieser liegt höher; mächtige Dämme trennen ihn von der Ebene; hier erst müssen die Canalboote durch Schleu- sen gehen, während südlich bis zu der etwa 70 Meilen entfernten Haṅ-tšau-Bai der Wasserstand durch den Yaṅ-tse-kiaṅ und die Meeresfluthen geregelt wird. Keine Schleuse hemmt den Boots- verkehr in diesem weiten Gebiet; es ist der fruchtbarste und volk- reichste Landstrich von China.
Die Wasserläufe in dieser Ebene sind meist die natürlichen Rinnsale, welche bei deren allmäliger Entstehung als Verkehrs- wege und zum Abfluss des Regenwassers offen gehalten wurden; die grösseren, wie der bei Shang-hae fliessende Wu-soṅ, gleichen Strömen; die kleinsten zu Bewässerung der Felder und Fortschaf- fung der Aernte dienenden werden auf kurzer Planke überschritten. Nur an wenigen Stellen erheben sich Felshügel einzeln oder in kleinen Gruppen aus der Ebene, einst Inseln, wie die vor der Mün- dung des Yaṅ-tse liegenden Rugged-islands. Vom Thurm der eng- lischen Kirche in Shang-hae gewahrt man bei heller Luft solche Höhen am fernsten Horizont.
Selten lockte das Wetter zu Spaziergängen; dann wanderte man auf schmalen Pfaden die Rinnsale entlang. Die Brücken be- stehen hier meist aus einer schmalen Steinschwelle; — sie müssen aus weiter Ferne herbeigeschafft sein; denn erratische Blöcke kann es nicht geben, da, abgesehen von der südlichen Lage, die Ebene
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Die Alluvialebne des Yaṅ-tse. XIII.
Die Umgebung von Shang-hae ist flach und reizlos, eine
unabsehbare Alluvial-Ebene, die sich südlich bis zum Tsien-taṅ
und der Bai von Haṅ-tšau, nördlich bis Wae-gan am Südufer
des Gelben Stromes und von der See etwa 30 Meilen westlich land-
einwärts erstreckt. So gross wie das Königreich Portugal umfasst
sie den grössten Theil der Provinz Kiaṅ-su und einen Theil von
Tše-kiaṅ. Der Yaṅ-tse, dem sie ihren Ursprung dankt, schiebt
seinen Bau immer weiter ins Meer hinaus; was heut als niedrige
Sandbank nur zur Fluthzeit aus dem Wasser taucht, wird nach
wenig Jahren bewohnt und angebaut. Der grösste Theil der Ebene
soll kaum zehn Fuss über der höchsten Springfluth, viele Stellen
unter deren Niveau liegen. Der Yaṅ-tse-kiaṅ durchschneidet sie,
nach Osten strömend, ungefähr in der Mitte, der Grosse Canal
kreuzt denselben in ihrer westlichen Hälfte. Ein dichtes Netzwerk
von Rinnsalen, die weder Flüsse noch Canäle zu nennen sind,
durchfurcht die ganze ungeheure Fläche von der Haṅ-tšau-Bai
bis zum Gelben Fluss. Dieser liegt höher; mächtige Dämme trennen
ihn von der Ebene; hier erst müssen die Canalboote durch Schleu-
sen gehen, während südlich bis zu der etwa 70 Meilen entfernten
Haṅ-tšau-Bai der Wasserstand durch den Yaṅ-tse-kiaṅ und die
Meeresfluthen geregelt wird. Keine Schleuse hemmt den Boots-
verkehr in diesem weiten Gebiet; es ist der fruchtbarste und volk-
reichste Landstrich von China.
Die Wasserläufe in dieser Ebene sind meist die natürlichen
Rinnsale, welche bei deren allmäliger Entstehung als Verkehrs-
wege und zum Abfluss des Regenwassers offen gehalten wurden;
die grösseren, wie der bei Shang-hae fliessende Wu-soṅ, gleichen
Strömen; die kleinsten zu Bewässerung der Felder und Fortschaf-
fung der Aernte dienenden werden auf kurzer Planke überschritten.
Nur an wenigen Stellen erheben sich Felshügel einzeln oder in
kleinen Gruppen aus der Ebene, einst Inseln, wie die vor der Mün-
dung des Yaṅ-tse liegenden Rugged-islands. Vom Thurm der eng-
lischen Kirche in Shang-hae gewahrt man bei heller Luft solche
Höhen am fernsten Horizont.
Selten lockte das Wetter zu Spaziergängen; dann wanderte
man auf schmalen Pfaden die Rinnsale entlang. Die Brücken be-
stehen hier meist aus einer schmalen Steinschwelle; — sie müssen
aus weiter Ferne herbeigeschafft sein; denn erratische Blöcke kann
es nicht geben, da, abgesehen von der südlichen Lage, die Ebene
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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/416>, abgerufen am 22.11.2024.
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