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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Die Wettertauue.
charakter, gewissermaßen eine persönliche Größe, ein aus der
Menge bedeutsam hervortretendes Individuum. Ebenso wie der
einzelne Bürger in seinem schlichten Wirkungskreise nur einen klei¬
nen Theil des großen Ganzen, des Staates ausmacht und in der
Bevölkerung verschwindet, ebenso geht der einzelne Baum im
Walde auf; er zählt nur in der Summe der Stämme mit und
verschwimmt bei geringer Entfernung in dem großen grünen
Blättergewölbe, in der sich durchflechtenden und umzweigenden
Verästelung.

Anders die einzeln stehende, den Wald überragende Wetter¬
tanne; sie gleicht jenen Auserwählten, die durch Geist und Kraft,
durch kühnes Werk und freie That aus der Summe ihrer Zeitge¬
nossen bedeutsam heraustreten, und was der Dichter von den
wahrhaft großen Fürsten singt:

Völker verrauschen, --
Namen verklingen, --
Finstere Vergessenheit
Breitet die dunkel nachtenden Schwingen
Ueber ganze Geschlechter aus. --
Aber der Fürsten einsame Häupter
Glänzen erhellet,
Und Aurora berührt sie
Mit den ewigen Strahlen,
Als die ragenden Gipfel der Welt --
    (Schiller.)
das darf man theilweise auch auf die Wettertanne anwenden.

Es giebt wenig andere Bäume, die so frischen, freien Muth
an der Stirn tragen, in so stolzer, strammer Eigenwilligkeit, in so
freudigem Selbstvertrauen dastehen, wie diese sturmzerzausten, ver¬
witterten Hochlandstannen. Erinnert die Eiche an jene eisen¬
festen Nordlandsrecken, von denen die Nibelungen und die Sänger
des Mittelalters uns Wunderdinge erzählen, so mahnt die derbe
trotzige Haltung der "Schirmtanne" an die Kämpen von Morgar¬
ten und Sempach. Es ist eben ein Gebirgsbaum von der äußersten
Wurzelfaser bis zur letzten Kronsprosse.

Die Wettertauue.
charakter, gewiſſermaßen eine perſönliche Größe, ein aus der
Menge bedeutſam hervortretendes Individuum. Ebenſo wie der
einzelne Bürger in ſeinem ſchlichten Wirkungskreiſe nur einen klei¬
nen Theil des großen Ganzen, des Staates ausmacht und in der
Bevölkerung verſchwindet, ebenſo geht der einzelne Baum im
Walde auf; er zählt nur in der Summe der Stämme mit und
verſchwimmt bei geringer Entfernung in dem großen grünen
Blättergewölbe, in der ſich durchflechtenden und umzweigenden
Veräſtelung.

Anders die einzeln ſtehende, den Wald überragende Wetter¬
tanne; ſie gleicht jenen Auserwählten, die durch Geiſt und Kraft,
durch kühnes Werk und freie That aus der Summe ihrer Zeitge¬
noſſen bedeutſam heraustreten, und was der Dichter von den
wahrhaft großen Fürſten ſingt:

Völker verrauſchen, —
Namen verklingen, —
Finſtere Vergeſſenheit
Breitet die dunkel nachtenden Schwingen
Ueber ganze Geſchlechter aus. —
Aber der Fürſten einſame Häupter
Glänzen erhellet,
Und Aurora berührt ſie
Mit den ewigen Strahlen,
Als die ragenden Gipfel der Welt —
    (Schiller.)
das darf man theilweiſe auch auf die Wettertanne anwenden.

Es giebt wenig andere Bäume, die ſo friſchen, freien Muth
an der Stirn tragen, in ſo ſtolzer, ſtrammer Eigenwilligkeit, in ſo
freudigem Selbſtvertrauen daſtehen, wie dieſe ſturmzerzauſten, ver¬
witterten Hochlandstannen. Erinnert die Eiche an jene eiſen¬
feſten Nordlandsrecken, von denen die Nibelungen und die Sänger
des Mittelalters uns Wunderdinge erzählen, ſo mahnt die derbe
trotzige Haltung der „Schirmtanne“ an die Kämpen von Morgar¬
ten und Sempach. Es iſt eben ein Gebirgsbaum von der äußerſten
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[82/0106] Die Wettertauue. charakter, gewiſſermaßen eine perſönliche Größe, ein aus der Menge bedeutſam hervortretendes Individuum. Ebenſo wie der einzelne Bürger in ſeinem ſchlichten Wirkungskreiſe nur einen klei¬ nen Theil des großen Ganzen, des Staates ausmacht und in der Bevölkerung verſchwindet, ebenſo geht der einzelne Baum im Walde auf; er zählt nur in der Summe der Stämme mit und verſchwimmt bei geringer Entfernung in dem großen grünen Blättergewölbe, in der ſich durchflechtenden und umzweigenden Veräſtelung. Anders die einzeln ſtehende, den Wald überragende Wetter¬ tanne; ſie gleicht jenen Auserwählten, die durch Geiſt und Kraft, durch kühnes Werk und freie That aus der Summe ihrer Zeitge¬ noſſen bedeutſam heraustreten, und was der Dichter von den wahrhaft großen Fürſten ſingt: Völker verrauſchen, — Namen verklingen, — Finſtere Vergeſſenheit Breitet die dunkel nachtenden Schwingen Ueber ganze Geſchlechter aus. — Aber der Fürſten einſame Häupter Glänzen erhellet, Und Aurora berührt ſie Mit den ewigen Strahlen, Als die ragenden Gipfel der Welt — (Schiller.) das darf man theilweiſe auch auf die Wettertanne anwenden. Es giebt wenig andere Bäume, die ſo friſchen, freien Muth an der Stirn tragen, in ſo ſtolzer, ſtrammer Eigenwilligkeit, in ſo freudigem Selbſtvertrauen daſtehen, wie dieſe ſturmzerzauſten, ver¬ witterten Hochlandstannen. Erinnert die Eiche an jene eiſen¬ feſten Nordlandsrecken, von denen die Nibelungen und die Sänger des Mittelalters uns Wunderdinge erzählen, ſo mahnt die derbe trotzige Haltung der „Schirmtanne“ an die Kämpen von Morgar¬ ten und Sempach. Es iſt eben ein Gebirgsbaum von der äußerſten Wurzelfaſer bis zur letzten Kronſproſſe.

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/106>, abgerufen am 21.11.2024.