Schon mancher tüchtige Forstbotaniker und Pflanzenphysiolog, der daheim in seinen wellenförmig gehügelten, prächtigen Staats¬ wäldern wacker bewandert war, stand, wenn er ein Neuling in die Alpen kam, im ersten Augenblicke verlegen und wußte nicht, wohin er diesen Sonderling rubriciren sollte. Denn der eigentliche Tan¬ nentypus ist an ihm oft ganz verwischt, wenn sichs so kronleuchter¬ ähnlich mit aufwärts gebogenen Zweigen emporgipfelt, als wärs der Bastard von einer Fichte und einer amerikanischen Agave. Und doch zirkulirt kein Tropfen solch heißländischen Gluthsaftes in sei¬ nen Adern, sondern reines, unverfälschtes, harziges Tannenblut, urgesund, "genährt vom ewigen Schnee"; -- diese "Schermtaxe" (wie sie in den österreichischen Alpen genannt wird) ist nicht mehr und nicht weniger als eine schlichte, ächte Rothtanne, wie deren jährlich Millionen von den Holzknechten drunten für Bau- und Brennmaterial gefällt und zu Markte gefahren werden. Aber eine andere Schule des Lebens hat die Wettertanne durchmachen müssen als die verzogenen Weichlinge, die schlanken jungfräulich¬ aufgeschossenen Nadelschafte der Tieflands-Wälder, -- sie hat sich ihr Emporkommen erkämpfen müssen, Zoll für Zoll, -- und daher ihr oft abnormer Wuchs, davon die Narben in Holz und Borke.
Die Wettertanne, die isolirt auf den Alpweiden bis 6000 F. und in Graubünden sogar bis gegen 7000 par. F. emporsteigt, ist kein ausgespartes Ueberbleibsel einstiger Baumarmeen dieser äußersten Baum-Vegetations-Zone; -- sie ist ein im Selbstständig¬ keitstriebe erwachsener Einsiedler. Vor Jahrhunderten hat es da droben schon große Wälder gegeben. Mächtige Wurzelstorren und versunkene Stämme deuten auf verschwundene Forste hin. Fast allenthalben im Hochgebirge begegnet man solchen Baumgespenstern einer vergangenen Waldgeneration, solchen Ruinen des Pflanzen¬ reiches, die von ihrer Zeit berichten, in welcher es noch herrliche Hochforste gab, bevor der souveräne Unverstand und die merkantile Spekulation ihre barbarischen Streifzüge in die stille Alpenwelt
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Die Wettertanne.
Schon mancher tüchtige Forſtbotaniker und Pflanzenphyſiolog, der daheim in ſeinen wellenförmig gehügelten, prächtigen Staats¬ wäldern wacker bewandert war, ſtand, wenn er ein Neuling in die Alpen kam, im erſten Augenblicke verlegen und wußte nicht, wohin er dieſen Sonderling rubriciren ſollte. Denn der eigentliche Tan¬ nentypus iſt an ihm oft ganz verwiſcht, wenn ſichs ſo kronleuchter¬ ähnlich mit aufwärts gebogenen Zweigen emporgipfelt, als wärs der Baſtard von einer Fichte und einer amerikaniſchen Agave. Und doch zirkulirt kein Tropfen ſolch heißländiſchen Gluthſaftes in ſei¬ nen Adern, ſondern reines, unverfälſchtes, harziges Tannenblut, urgeſund, „genährt vom ewigen Schnee“; — dieſe „Schermtaxe“ (wie ſie in den öſterreichiſchen Alpen genannt wird) iſt nicht mehr und nicht weniger als eine ſchlichte, ächte Rothtanne, wie deren jährlich Millionen von den Holzknechten drunten für Bau- und Brennmaterial gefällt und zu Markte gefahren werden. Aber eine andere Schule des Lebens hat die Wettertanne durchmachen müſſen als die verzogenen Weichlinge, die ſchlanken jungfräulich¬ aufgeſchoſſenen Nadelſchafte der Tieflands-Wälder, — ſie hat ſich ihr Emporkommen erkämpfen müſſen, Zoll für Zoll, — und daher ihr oft abnormer Wuchs, davon die Narben in Holz und Borke.
Die Wettertanne, die iſolirt auf den Alpweiden bis 6000 F. und in Graubünden ſogar bis gegen 7000 par. F. emporſteigt, iſt kein ausgeſpartes Ueberbleibſel einſtiger Baumarmeen dieſer äußerſten Baum-Vegetations-Zone; — ſie iſt ein im Selbſtſtändig¬ keitstriebe erwachſener Einſiedler. Vor Jahrhunderten hat es da droben ſchon große Wälder gegeben. Mächtige Wurzelſtorren und verſunkene Stämme deuten auf verſchwundene Forſte hin. Faſt allenthalben im Hochgebirge begegnet man ſolchen Baumgeſpenſtern einer vergangenen Waldgeneration, ſolchen Ruinen des Pflanzen¬ reiches, die von ihrer Zeit berichten, in welcher es noch herrliche Hochforſte gab, bevor der ſouveräne Unverſtand und die merkantile Spekulation ihre barbariſchen Streifzüge in die ſtille Alpenwelt
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Die Wettertanne.
Schon mancher tüchtige Forſtbotaniker und Pflanzenphyſiolog,
der daheim in ſeinen wellenförmig gehügelten, prächtigen Staats¬
wäldern wacker bewandert war, ſtand, wenn er ein Neuling in die
Alpen kam, im erſten Augenblicke verlegen und wußte nicht, wohin
er dieſen Sonderling rubriciren ſollte. Denn der eigentliche Tan¬
nentypus iſt an ihm oft ganz verwiſcht, wenn ſichs ſo kronleuchter¬
ähnlich mit aufwärts gebogenen Zweigen emporgipfelt, als wärs
der Baſtard von einer Fichte und einer amerikaniſchen Agave. Und
doch zirkulirt kein Tropfen ſolch heißländiſchen Gluthſaftes in ſei¬
nen Adern, ſondern reines, unverfälſchtes, harziges Tannenblut,
urgeſund, „genährt vom ewigen Schnee“; — dieſe „Schermtaxe“
(wie ſie in den öſterreichiſchen Alpen genannt wird) iſt nicht mehr
und nicht weniger als eine ſchlichte, ächte Rothtanne, wie deren
jährlich Millionen von den Holzknechten drunten für Bau- und
Brennmaterial gefällt und zu Markte gefahren werden. Aber
eine andere Schule des Lebens hat die Wettertanne durchmachen
müſſen als die verzogenen Weichlinge, die ſchlanken jungfräulich¬
aufgeſchoſſenen Nadelſchafte der Tieflands-Wälder, — ſie hat ſich
ihr Emporkommen erkämpfen müſſen, Zoll für Zoll, — und daher
ihr oft abnormer Wuchs, davon die Narben in Holz und Borke.
Die Wettertanne, die iſolirt auf den Alpweiden bis 6000 F.
und in Graubünden ſogar bis gegen 7000 par. F. emporſteigt,
iſt kein ausgeſpartes Ueberbleibſel einſtiger Baumarmeen dieſer
äußerſten Baum-Vegetations-Zone; — ſie iſt ein im Selbſtſtändig¬
keitstriebe erwachſener Einſiedler. Vor Jahrhunderten hat es da
droben ſchon große Wälder gegeben. Mächtige Wurzelſtorren und
verſunkene Stämme deuten auf verſchwundene Forſte hin. Faſt
allenthalben im Hochgebirge begegnet man ſolchen Baumgeſpenſtern
einer vergangenen Waldgeneration, ſolchen Ruinen des Pflanzen¬
reiches, die von ihrer Zeit berichten, in welcher es noch herrliche
Hochforſte gab, bevor der ſouveräne Unverſtand und die merkantile
Spekulation ihre barbariſchen Streifzüge in die ſtille Alpenwelt
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/107>, abgerufen am 21.11.2024.
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