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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Die Wetterlaune.
Schaft in eine derbe, knorrige Walze, von gedrungenem, breit¬
spurigem Wuchse umgewandelt. Man erkennt zwar das ehrliche
Bestreben des senkrechten Emporwuchses noch; aber da hat die Un¬
gunst äußerer Verhältnisse, da haben Stürme, Lauinen und Ge¬
witter ohne Zahl so an ihr herumgezwackt und verstümmelt und
amputirt, daß sie über und über voll Risse und schwer vernarbter
Wunden, voll Knoten und Mißgestaltungen geworden ist. Man
könnte die Wettertanne einen Märtyrer der Baumwelt nennen,
wenn mehr passives Element in ihr läge. Aber dieser Baum ist ein
so widerspenstiger Gesell, wie man keinen zweiten findet, -- der
allen und jeden Hemmnissen und Chikanen zum Trotz doch seinen
Kopf durchsetzt und, -- wenngleich hundertmal am innersten Le¬
bensnerv empfindlich, fast tödtlich getroffen, dennoch mit unver¬
wüstlicher Lebenskraft aufs Neue sich emporarbeitet. Ein köstlicher
Bursch, so durch und durch voll Energie, so männlich unbeugsam,
-- wie gesagt ein Baumcharakter, an dem jeder rechte Mann seine
Freude haben muß.

Und nun der Astbau! ja, das ist ganz das gleiche aktive
Wesen, das nämliche "Durchsetzen a tout prix" wie beim Stamm.
Da will jeder kleine Zweig sein Selbstständigkeits-Recht behaupten
und auf eigene Faust ein Stück Baum werden. Es ist eine Rand¬
zeichnung zu dem Sprüchwort: "Wie die Alten sungen, so zwit¬
schern die Jungen." -- Ganz entgegen dem horizontalen Astwuchs¬
bestreben der Tieflandstanne, hebt hier der Ast, nach kurzer, wage¬
rechter Lage sich plötzlich wie ein Schwanenhals und steigt nun
senkrecht, gleich einer in der Luft wurzelnden kleinen Tanne em¬
por. Aber diese Aeste sind nicht rund um den Baum gleichmäßig
vertheilt, sondern auf der einen Seite, wo der Blitz rasirt und
heruntergeschmettert oder der Sturm exartikulirt hat, fehlts, --
während auf der anderen Seite nur um so dichtere, intensivere
Zweig- und Nadelfülle erwächst. Hin und wieder ragen dann auch
verdorrte, völlig abgestorbene Astzacken dazwischen hervor und hel¬

Die Wetterlaune.
Schaft in eine derbe, knorrige Walze, von gedrungenem, breit¬
ſpurigem Wuchſe umgewandelt. Man erkennt zwar das ehrliche
Beſtreben des ſenkrechten Emporwuchſes noch; aber da hat die Un¬
gunſt äußerer Verhältniſſe, da haben Stürme, Lauinen und Ge¬
witter ohne Zahl ſo an ihr herumgezwackt und verſtümmelt und
amputirt, daß ſie über und über voll Riſſe und ſchwer vernarbter
Wunden, voll Knoten und Mißgeſtaltungen geworden iſt. Man
könnte die Wettertanne einen Märtyrer der Baumwelt nennen,
wenn mehr paſſives Element in ihr läge. Aber dieſer Baum iſt ein
ſo widerſpenſtiger Geſell, wie man keinen zweiten findet, — der
allen und jeden Hemmniſſen und Chikanen zum Trotz doch ſeinen
Kopf durchſetzt und, — wenngleich hundertmal am innerſten Le¬
bensnerv empfindlich, faſt tödtlich getroffen, dennoch mit unver¬
wüſtlicher Lebenskraft aufs Neue ſich emporarbeitet. Ein köſtlicher
Burſch, ſo durch und durch voll Energie, ſo männlich unbeugſam,
— wie geſagt ein Baumcharakter, an dem jeder rechte Mann ſeine
Freude haben muß.

Und nun der Aſtbau! ja, das iſt ganz das gleiche aktive
Weſen, das nämliche „Durchſetzen a tout prix“ wie beim Stamm.
Da will jeder kleine Zweig ſein Selbſtſtändigkeits-Recht behaupten
und auf eigene Fauſt ein Stück Baum werden. Es iſt eine Rand¬
zeichnung zu dem Sprüchwort: „Wie die Alten ſungen, ſo zwit¬
ſchern die Jungen.“ — Ganz entgegen dem horizontalen Aſtwuchs¬
beſtreben der Tieflandstanne, hebt hier der Aſt, nach kurzer, wage¬
rechter Lage ſich plötzlich wie ein Schwanenhals und ſteigt nun
ſenkrecht, gleich einer in der Luft wurzelnden kleinen Tanne em¬
por. Aber dieſe Aeſte ſind nicht rund um den Baum gleichmäßig
vertheilt, ſondern auf der einen Seite, wo der Blitz raſirt und
heruntergeſchmettert oder der Sturm exartikulirt hat, fehlts, —
während auf der anderen Seite nur um ſo dichtere, intenſivere
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[85/0109] Die Wetterlaune. Schaft in eine derbe, knorrige Walze, von gedrungenem, breit¬ ſpurigem Wuchſe umgewandelt. Man erkennt zwar das ehrliche Beſtreben des ſenkrechten Emporwuchſes noch; aber da hat die Un¬ gunſt äußerer Verhältniſſe, da haben Stürme, Lauinen und Ge¬ witter ohne Zahl ſo an ihr herumgezwackt und verſtümmelt und amputirt, daß ſie über und über voll Riſſe und ſchwer vernarbter Wunden, voll Knoten und Mißgeſtaltungen geworden iſt. Man könnte die Wettertanne einen Märtyrer der Baumwelt nennen, wenn mehr paſſives Element in ihr läge. Aber dieſer Baum iſt ein ſo widerſpenſtiger Geſell, wie man keinen zweiten findet, — der allen und jeden Hemmniſſen und Chikanen zum Trotz doch ſeinen Kopf durchſetzt und, — wenngleich hundertmal am innerſten Le¬ bensnerv empfindlich, faſt tödtlich getroffen, dennoch mit unver¬ wüſtlicher Lebenskraft aufs Neue ſich emporarbeitet. Ein köſtlicher Burſch, ſo durch und durch voll Energie, ſo männlich unbeugſam, — wie geſagt ein Baumcharakter, an dem jeder rechte Mann ſeine Freude haben muß. Und nun der Aſtbau! ja, das iſt ganz das gleiche aktive Weſen, das nämliche „Durchſetzen a tout prix“ wie beim Stamm. Da will jeder kleine Zweig ſein Selbſtſtändigkeits-Recht behaupten und auf eigene Fauſt ein Stück Baum werden. Es iſt eine Rand¬ zeichnung zu dem Sprüchwort: „Wie die Alten ſungen, ſo zwit¬ ſchern die Jungen.“ — Ganz entgegen dem horizontalen Aſtwuchs¬ beſtreben der Tieflandstanne, hebt hier der Aſt, nach kurzer, wage¬ rechter Lage ſich plötzlich wie ein Schwanenhals und ſteigt nun ſenkrecht, gleich einer in der Luft wurzelnden kleinen Tanne em¬ por. Aber dieſe Aeſte ſind nicht rund um den Baum gleichmäßig vertheilt, ſondern auf der einen Seite, wo der Blitz raſirt und heruntergeſchmettert oder der Sturm exartikulirt hat, fehlts, — während auf der anderen Seite nur um ſo dichtere, intenſivere Zweig- und Nadelfülle erwächſt. Hin und wieder ragen dann auch verdorrte, völlig abgeſtorbene Aſtzacken dazwiſchen hervor und hel¬

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/109>, abgerufen am 24.11.2024.