Bei drückender Mittagswärme hatte ich am 15. September 1852 Vevey verlassen und schlenderte unentschlossen längs dem See die Straße hinab. Schon oft hatte mich die einsamstehende Felszacke der Dent de Jaman von Weitem freundlich winkend zu einem Besuche eingeladen, aber so oft ich auf dem Dampfschiff an ihr vorüberfuhr, lag sie außerhalb meiner Reiseroute. Heute kam mir die "Dent" in meinem "Wohin-Zweifel" ganz gelegen, und vor Clarens links vom Wege abbiegend, vor mir die hohe Naye, stieg ich zwischen Weinbergen gegen Chailly und Chernex empor. Immer freier und prachtvoller entfaltet sich die große, umfassende Rundschau, je höher man steigt. Es ist ein Bild, das in seinem Reichthum an hoher Majestät und idyllischer Einfachheit, an Far¬ benpracht und Formenfülle bei völliger Harmonie der Gegensätze seines Gleichen im ganzen, weiten Alpenlande sucht.
Der Himmel hatte allgemach eine mißliche Färbung angenom¬ men, bleigrau und eintönig dehnte er sich über die prachtvolle Landschaft aus und die Sonne schien mattgelb und schläfrig hin¬ ein. Ein deutscher Professor, der mit seinen Zöglingen über den Col de Jaman herabkam, empfahl mir das Bergwirthshaus "En avant" bei Mr. Dufour, und sein wie ein Lastpferd mit Taschen, Nachtsäcken, Tornistern und Botanisirbüchsen bepackter Führer meinte: "da hätte ich die beste Gelegenheit, den Regen abzu¬ warten." --
Verdrießlich überrascht sah ich dem halb lachend, halb keuchend forttrabenden Lastträger nach, und ein fragender Blick hinauf zur Sonne, die gläsern, fast strahlenlos hinter der, von wässerigen Dünsten erfüllten Atmosphäre stand, so wie unheimliches, schmutzig¬ graues Gewölk an der Dent du Midi schienen mir leider die un¬ erwartete Wahrheit des Wetterpropheten zu bestätigen. Umkehren war von jeher meine Passion nicht, selbst in Fällen, wo mein Ortssinn mir sagte, daß ich auf falschem Wege sei. Darum galt es jetzt einen Schritt zuzulegen. Rascher, als ich gehofft, kam ich
Eine Nebel-Novelle.
Bei drückender Mittagswärme hatte ich am 15. September 1852 Vevey verlaſſen und ſchlenderte unentſchloſſen längs dem See die Straße hinab. Schon oft hatte mich die einſamſtehende Felszacke der Dent de Jaman von Weitem freundlich winkend zu einem Beſuche eingeladen, aber ſo oft ich auf dem Dampfſchiff an ihr vorüberfuhr, lag ſie außerhalb meiner Reiſeroute. Heute kam mir die „Dent“ in meinem „Wohin-Zweifel“ ganz gelegen, und vor Clarens links vom Wege abbiegend, vor mir die hohe Naye, ſtieg ich zwiſchen Weinbergen gegen Chailly und Chernex empor. Immer freier und prachtvoller entfaltet ſich die große, umfaſſende Rundſchau, je höher man ſteigt. Es iſt ein Bild, das in ſeinem Reichthum an hoher Majeſtät und idylliſcher Einfachheit, an Far¬ benpracht und Formenfülle bei völliger Harmonie der Gegenſätze ſeines Gleichen im ganzen, weiten Alpenlande ſucht.
Der Himmel hatte allgemach eine mißliche Färbung angenom¬ men, bleigrau und eintönig dehnte er ſich über die prachtvolle Landſchaft aus und die Sonne ſchien mattgelb und ſchläfrig hin¬ ein. Ein deutſcher Profeſſor, der mit ſeinen Zöglingen über den Col de Jaman herabkam, empfahl mir das Bergwirthshaus „En avant“ bei Mr. Dufour, und ſein wie ein Laſtpferd mit Taſchen, Nachtſäcken, Torniſtern und Botaniſirbüchſen bepackter Führer meinte: „da hätte ich die beſte Gelegenheit, den Regen abzu¬ warten.“ —
Verdrießlich überraſcht ſah ich dem halb lachend, halb keuchend forttrabenden Laſtträger nach, und ein fragender Blick hinauf zur Sonne, die gläſern, faſt ſtrahlenlos hinter der, von wäſſerigen Dünſten erfüllten Atmoſphäre ſtand, ſo wie unheimliches, ſchmutzig¬ graues Gewölk an der Dent du Midi ſchienen mir leider die un¬ erwartete Wahrheit des Wetterpropheten zu beſtätigen. Umkehren war von jeher meine Paſſion nicht, ſelbſt in Fällen, wo mein Ortsſinn mir ſagte, daß ich auf falſchem Wege ſei. Darum galt es jetzt einen Schritt zuzulegen. Raſcher, als ich gehofft, kam ich
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Eine Nebel-Novelle.
Bei drückender Mittagswärme hatte ich am 15. September
1852 Vevey verlaſſen und ſchlenderte unentſchloſſen längs dem
See die Straße hinab. Schon oft hatte mich die einſamſtehende
Felszacke der Dent de Jaman von Weitem freundlich winkend zu
einem Beſuche eingeladen, aber ſo oft ich auf dem Dampfſchiff an
ihr vorüberfuhr, lag ſie außerhalb meiner Reiſeroute. Heute kam
mir die „Dent“ in meinem „Wohin-Zweifel“ ganz gelegen, und
vor Clarens links vom Wege abbiegend, vor mir die hohe Naye,
ſtieg ich zwiſchen Weinbergen gegen Chailly und Chernex empor.
Immer freier und prachtvoller entfaltet ſich die große, umfaſſende
Rundſchau, je höher man ſteigt. Es iſt ein Bild, das in ſeinem
Reichthum an hoher Majeſtät und idylliſcher Einfachheit, an Far¬
benpracht und Formenfülle bei völliger Harmonie der Gegenſätze
ſeines Gleichen im ganzen, weiten Alpenlande ſucht.
Der Himmel hatte allgemach eine mißliche Färbung angenom¬
men, bleigrau und eintönig dehnte er ſich über die prachtvolle
Landſchaft aus und die Sonne ſchien mattgelb und ſchläfrig hin¬
ein. Ein deutſcher Profeſſor, der mit ſeinen Zöglingen über den
Col de Jaman herabkam, empfahl mir das Bergwirthshaus „En
avant“ bei Mr. Dufour, und ſein wie ein Laſtpferd mit Taſchen,
Nachtſäcken, Torniſtern und Botaniſirbüchſen bepackter Führer
meinte: „da hätte ich die beſte Gelegenheit, den Regen abzu¬
warten.“ —
Verdrießlich überraſcht ſah ich dem halb lachend, halb keuchend
forttrabenden Laſtträger nach, und ein fragender Blick hinauf zur
Sonne, die gläſern, faſt ſtrahlenlos hinter der, von wäſſerigen
Dünſten erfüllten Atmoſphäre ſtand, ſo wie unheimliches, ſchmutzig¬
graues Gewölk an der Dent du Midi ſchienen mir leider die un¬
erwartete Wahrheit des Wetterpropheten zu beſtätigen. Umkehren
war von jeher meine Paſſion nicht, ſelbſt in Fällen, wo mein
Ortsſinn mir ſagte, daß ich auf falſchem Wege ſei. Darum galt
es jetzt einen Schritt zuzulegen. Raſcher, als ich gehofft, kam ich
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/148>, abgerufen am 21.11.2024.
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