Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Schneesturm. jenen Alpeneinschnitten, durch welche Bergstraßen und Pässe hin¬durchführen, und zwar sonderbarer Weise beim Nordwinde an der südlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am Heftigsten. Berüchtiget sind in dieser Beziehung ganz besonders der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf letzterem ward ein großer Theil des russischen Heeres unter Su¬ worow, bei der Retirade im October 1799, eine Beute der Schnee¬ stürme. Nach mündlichen Versicherungen der Bernhardiner Mönche ist in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Mensch am Großen St. Bernhard durch einen Schneesturm mehr ums Leben gekommen. Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den bösen Gast Der Schneeſturm. jenen Alpeneinſchnitten, durch welche Bergſtraßen und Päſſe hin¬durchführen, und zwar ſonderbarer Weiſe beim Nordwinde an der ſüdlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am Heftigſten. Berüchtiget ſind in dieſer Beziehung ganz beſonders der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf letzterem ward ein großer Theil des ruſſiſchen Heeres unter Su¬ worow, bei der Retirade im October 1799, eine Beute der Schnee¬ ſtürme. Nach mündlichen Verſicherungen der Bernhardiner Mönche iſt in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Menſch am Großen St. Bernhard durch einen Schneeſturm mehr ums Leben gekommen. Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den böſen Gaſt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0198" n="170"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Schneeſturm</hi>.<lb/></fw> jenen Alpeneinſchnitten, durch welche Bergſtraßen und Päſſe hin¬<lb/> durchführen, und zwar ſonderbarer Weiſe beim Nordwinde an der<lb/> ſüdlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am<lb/> Heftigſten. Berüchtiget ſind in dieſer Beziehung ganz beſonders<lb/> der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton<lb/> Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf<lb/> letzterem ward ein großer Theil des ruſſiſchen Heeres unter Su¬<lb/> worow, bei der Retirade im October 1799, eine Beute der Schnee¬<lb/> ſtürme. Nach mündlichen Verſicherungen der Bernhardiner Mönche<lb/> iſt in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Menſch am<lb/> Großen St. Bernhard durch einen Schneeſturm mehr ums Leben<lb/> gekommen.</p><lb/> <p>Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den böſen Gaſt<lb/> anmelden. Die ſonſt matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des<lb/> Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im<lb/> Farbentone ſich ablöſt, wird beſtimmter, dicker, geſättigter, man<lb/> ſieht ihr gleichſam den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgs¬<lb/> züge, deren nackte Felſenknochen deutlich erkennbar heraustraten,<lb/> werden erſt leicht, dann aber immer trüber und dichter verſchleiert,<lb/> bis ſie zuletzt ganz verſchwinden. Die Luft iſt ruhig, ſehr kalt,<lb/> ohne jene kräftige ſäuerliche Winterfriſche zu athmen, welche an<lb/> heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stubenſitzen<lb/> verdumpften Sinne völlig neu belebt; — trockene, froſtige, harte<lb/> Luft füllt die Atmoſphäre. Dazu lagert ringsumher unbeſchreiblich¬<lb/> lautloſe Stille über der erſtorbenen Einöde. Das ſprungfertige<lb/> Volk der Gemſen, welches im Sommer dieſe Höhen belebt, wohnt<lb/> jetzt in tieferliegenden Forſten, — das pfeifende Murmelthier liegt<lb/> im Winterſchlafe erſtarrt in ſeiner Höhle, und ſelbſt die, im Winter<lb/> kreiſchend die zerſpaltenen, ſchwer erſteigbaren Granitzinnen um¬<lb/> kreiſende Bergdohle hat ſich in ihr Kluftenneſt geflüchtet; kein dür¬<lb/> res Laub raſchelt an den Aeſten, denn in dieſen Höhen hat der<lb/> Baumwuchs aufgehört, und die melancholiſche Legföhre und das<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [170/0198]
Der Schneeſturm.
jenen Alpeneinſchnitten, durch welche Bergſtraßen und Päſſe hin¬
durchführen, und zwar ſonderbarer Weiſe beim Nordwinde an der
ſüdlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am
Heftigſten. Berüchtiget ſind in dieſer Beziehung ganz beſonders
der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton
Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf
letzterem ward ein großer Theil des ruſſiſchen Heeres unter Su¬
worow, bei der Retirade im October 1799, eine Beute der Schnee¬
ſtürme. Nach mündlichen Verſicherungen der Bernhardiner Mönche
iſt in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Menſch am
Großen St. Bernhard durch einen Schneeſturm mehr ums Leben
gekommen.
Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den böſen Gaſt
anmelden. Die ſonſt matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des
Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im
Farbentone ſich ablöſt, wird beſtimmter, dicker, geſättigter, man
ſieht ihr gleichſam den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgs¬
züge, deren nackte Felſenknochen deutlich erkennbar heraustraten,
werden erſt leicht, dann aber immer trüber und dichter verſchleiert,
bis ſie zuletzt ganz verſchwinden. Die Luft iſt ruhig, ſehr kalt,
ohne jene kräftige ſäuerliche Winterfriſche zu athmen, welche an
heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stubenſitzen
verdumpften Sinne völlig neu belebt; — trockene, froſtige, harte
Luft füllt die Atmoſphäre. Dazu lagert ringsumher unbeſchreiblich¬
lautloſe Stille über der erſtorbenen Einöde. Das ſprungfertige
Volk der Gemſen, welches im Sommer dieſe Höhen belebt, wohnt
jetzt in tieferliegenden Forſten, — das pfeifende Murmelthier liegt
im Winterſchlafe erſtarrt in ſeiner Höhle, und ſelbſt die, im Winter
kreiſchend die zerſpaltenen, ſchwer erſteigbaren Granitzinnen um¬
kreiſende Bergdohle hat ſich in ihr Kluftenneſt geflüchtet; kein dür¬
res Laub raſchelt an den Aeſten, denn in dieſen Höhen hat der
Baumwuchs aufgehört, und die melancholiſche Legföhre und das
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |