Alpenrosen-Gebüsch schlummern tief unterm Schnee, -- kein Wind¬ hauch rieselt Schneekörner über die jähen Fluhsätze, -- allenthalben herrscht jene bange Stille, welche an schwülen Sommertagen dem Ausbruche eines heftigen Gewitters voranzugehen pflegt. Die ein¬ zigen Laute, welche der Wanderer vernimmt, sind sein eigenes tiefes Athmen, das Schnauben der Rosse (wenn er mit dem Schlitten das Gebirge passirt) und das knitternde Aechzen des getretenen Schnees.
Nähert sich nun die Katastrophe, dann hüllen massige graue Wolken auch die näherliegenden Bergspitzen ein und lasten so dick und schwer auf ihnen, als wollten sie für eine Ewigkeit hier Posto fassen. Noch immer ists Zeit, die schützende Cantoniera, (Refuge, Zufluchtshaus) oder das gastliche Hospitium zu erreichen, wenn es nicht allzufern ist, -- aber auch immer dämmeriger wirds, -- der Abend scheint den Mittag übersprungen zu haben. Plötzlich er¬ schreckt den besorglich-eilenden, schon halb ermüdeten Reisenden ein heftiger, scharfer Windstoß, der ihm eine Handvoll emporgerafften Schnee entgegenwirft; dann ists wieder ruhig, -- still rundum, wie vorher. Diese intermittirenden Vorläufer wiederholen ihre Mahnung noch einigemal, gewöhnlich nach immer kürzer aufeinander folgenden Pausen. Es sind die äußersten und letzten Erinnerungs¬ zeichen zur Flucht. Denn nun beginnt ein seltsames unheimliches Tönen in den Felsenkammern und Steinschluchten, erst leise und seufzend, dem wimmernde Antwort von der entgegengesetzten Seite folgt, dann vernehmlicher, näher, stärker, aber rasch weit und wei¬ ter verklingend in anderen Gebirgsrevieren; es ist, als ob ferne ver¬ wehte Stimmen um Hilfe riefen. Diese durch die Luft streichenden Klagen tönen jetzt aus einer dritten und vierten Ecke hervor, aber so getragen, so einförmig und hohl, so ganz anders als im Lande drunten, wenn um die Zeit des Aequinoktiums der Wind durch Kamin und Thürspalten seine jammernden Melodieen heult. -- Das Roß vorm Schlitten haut fester mit den Hufen in den unsicheren, lockeren Pfad, und schnaubt öfter und unwillig, -- sein Instinkt
Der Schneeſturm.
Alpenroſen-Gebüſch ſchlummern tief unterm Schnee, — kein Wind¬ hauch rieſelt Schneekörner über die jähen Fluhſätze, — allenthalben herrſcht jene bange Stille, welche an ſchwülen Sommertagen dem Ausbruche eines heftigen Gewitters voranzugehen pflegt. Die ein¬ zigen Laute, welche der Wanderer vernimmt, ſind ſein eigenes tiefes Athmen, das Schnauben der Roſſe (wenn er mit dem Schlitten das Gebirge paſſirt) und das knitternde Aechzen des getretenen Schnees.
Nähert ſich nun die Kataſtrophe, dann hüllen maſſige graue Wolken auch die näherliegenden Bergſpitzen ein und laſten ſo dick und ſchwer auf ihnen, als wollten ſie für eine Ewigkeit hier Poſto faſſen. Noch immer iſts Zeit, die ſchützende Cantoniera, (Refuge, Zufluchtshaus) oder das gaſtliche Hospitium zu erreichen, wenn es nicht allzufern iſt, — aber auch immer dämmeriger wirds, — der Abend ſcheint den Mittag überſprungen zu haben. Plötzlich er¬ ſchreckt den beſorglich-eilenden, ſchon halb ermüdeten Reiſenden ein heftiger, ſcharfer Windſtoß, der ihm eine Handvoll emporgerafften Schnee entgegenwirft; dann iſts wieder ruhig, — ſtill rundum, wie vorher. Dieſe intermittirenden Vorläufer wiederholen ihre Mahnung noch einigemal, gewöhnlich nach immer kürzer aufeinander folgenden Pauſen. Es ſind die äußerſten und letzten Erinnerungs¬ zeichen zur Flucht. Denn nun beginnt ein ſeltſames unheimliches Tönen in den Felſenkammern und Steinſchluchten, erſt leiſe und ſeufzend, dem wimmernde Antwort von der entgegengeſetzten Seite folgt, dann vernehmlicher, näher, ſtärker, aber raſch weit und wei¬ ter verklingend in anderen Gebirgsrevieren; es iſt, als ob ferne ver¬ wehte Stimmen um Hilfe riefen. Dieſe durch die Luft ſtreichenden Klagen tönen jetzt aus einer dritten und vierten Ecke hervor, aber ſo getragen, ſo einförmig und hohl, ſo ganz anders als im Lande drunten, wenn um die Zeit des Aequinoktiums der Wind durch Kamin und Thürſpalten ſeine jammernden Melodieen heult. — Das Roß vorm Schlitten haut feſter mit den Hufen in den unſicheren, lockeren Pfad, und ſchnaubt öfter und unwillig, — ſein Inſtinkt
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Der Schneeſturm.
Alpenroſen-Gebüſch ſchlummern tief unterm Schnee, — kein Wind¬
hauch rieſelt Schneekörner über die jähen Fluhſätze, — allenthalben
herrſcht jene bange Stille, welche an ſchwülen Sommertagen dem
Ausbruche eines heftigen Gewitters voranzugehen pflegt. Die ein¬
zigen Laute, welche der Wanderer vernimmt, ſind ſein eigenes tiefes
Athmen, das Schnauben der Roſſe (wenn er mit dem Schlitten das
Gebirge paſſirt) und das knitternde Aechzen des getretenen Schnees.
Nähert ſich nun die Kataſtrophe, dann hüllen maſſige graue
Wolken auch die näherliegenden Bergſpitzen ein und laſten ſo dick
und ſchwer auf ihnen, als wollten ſie für eine Ewigkeit hier Poſto
faſſen. Noch immer iſts Zeit, die ſchützende Cantoniera, (Refuge,
Zufluchtshaus) oder das gaſtliche Hospitium zu erreichen, wenn es
nicht allzufern iſt, — aber auch immer dämmeriger wirds, — der
Abend ſcheint den Mittag überſprungen zu haben. Plötzlich er¬
ſchreckt den beſorglich-eilenden, ſchon halb ermüdeten Reiſenden ein
heftiger, ſcharfer Windſtoß, der ihm eine Handvoll emporgerafften
Schnee entgegenwirft; dann iſts wieder ruhig, — ſtill rundum,
wie vorher. Dieſe intermittirenden Vorläufer wiederholen ihre
Mahnung noch einigemal, gewöhnlich nach immer kürzer aufeinander
folgenden Pauſen. Es ſind die äußerſten und letzten Erinnerungs¬
zeichen zur Flucht. Denn nun beginnt ein ſeltſames unheimliches
Tönen in den Felſenkammern und Steinſchluchten, erſt leiſe und
ſeufzend, dem wimmernde Antwort von der entgegengeſetzten Seite
folgt, dann vernehmlicher, näher, ſtärker, aber raſch weit und wei¬
ter verklingend in anderen Gebirgsrevieren; es iſt, als ob ferne ver¬
wehte Stimmen um Hilfe riefen. Dieſe durch die Luft ſtreichenden
Klagen tönen jetzt aus einer dritten und vierten Ecke hervor, aber
ſo getragen, ſo einförmig und hohl, ſo ganz anders als im Lande
drunten, wenn um die Zeit des Aequinoktiums der Wind durch
Kamin und Thürſpalten ſeine jammernden Melodieen heult. — Das
Roß vorm Schlitten haut feſter mit den Hufen in den unſicheren,
lockeren Pfad, und ſchnaubt öfter und unwillig, — ſein Inſtinkt
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/199>, abgerufen am 21.11.2024.
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