dener Stier, der in blinder Wuth keinen Weg sieht, mit zu Bo¬ den gesenktem Haupt in die Erde hineinwühlt, eine Welt auf seine Hörner nehmen würde und dem Abgrund zutobt, in dem er sein Grab findet.
Die Rüfe beginnt nicht mit Vorboten kleiner Wassersendungen, mit irgend einigen introducirenden Symptomen; man hört sie höchstens von Weitem tobend anrücken, oft (wenn das Wetter, welches sie erzeugte, lange andauert) verschwommen mit dem heil¬ losen Aufruhr in den Lüften, so daß man nicht unterscheiden kann, was zurückgeworfener Widerhall des Donners aus den Klüften ist und was vom Stürzen der, von der Rüfe in Gang gebrachten Steine herrührt. Plötzlich bricht sie hervor, ein stürmendes Unge¬ heuer, ein brüllendes, steinerfülltes Meer, ein Produkt der rasend¬ sten Gewalt. Wie schon erwähnt, fließt oder strömt sie nicht eigent¬ lich, sondern der wässerig-dünne Schlammfluß wälzt oder stößt Ge¬ trümmerhaufen, Etagen-hoch vor sich her, in beständigem Sturzfall und doch sofort ergänztem Wiederaufbau, eine wandernde, leben¬ dig gewordene Felsen-Ruinen-Wand. Bei einigen Rüfen gehts indessen gar nicht so schnell; oft lacht schon wieder heiterer Himmel überm Thal und die Sonne leuchtet warm drein, bis der gräßliche Unhold aus seinem Hinterhalte hervorbricht. Dies ist namentlich bei der Skalära-Rüfe der Fall, die dafür aber quantitativ das Meiste liefert. Es ist ein unbeschreiblich hohles, Alles übertönen¬ des Gepolter, -- in der Summe des tobenden Lärmes etwa der heftigsten Kanonade beim Sturm-Geheul zu vergleichen, wo der ganze Skandal, sich zu einem großen, runden, brausenden, krachen¬ den Tonballen ineinander verwebt, der stundenweit hörbar ist.
Nun gilt es nur, das Ungethüm im Gange zu erhalten. Baut sie einmal einen Querdamm aus ihren zentnerschweren Steinkolossen auf, häuft sich hinter demselben einmal die andrän¬ gende Masse, können die am Ufer mit großen Haken und Stangen beschäftigten, schreienden Anwohner nicht irgendwo eine Bresche
Berlepsch, die Alpen. 13
Die Rüfe.
dener Stier, der in blinder Wuth keinen Weg ſieht, mit zu Bo¬ den geſenktem Haupt in die Erde hineinwühlt, eine Welt auf ſeine Hörner nehmen würde und dem Abgrund zutobt, in dem er ſein Grab findet.
Die Rüfe beginnt nicht mit Vorboten kleiner Waſſerſendungen, mit irgend einigen introducirenden Symptomen; man hört ſie höchſtens von Weitem tobend anrücken, oft (wenn das Wetter, welches ſie erzeugte, lange andauert) verſchwommen mit dem heil¬ loſen Aufruhr in den Lüften, ſo daß man nicht unterſcheiden kann, was zurückgeworfener Widerhall des Donners aus den Klüften iſt und was vom Stürzen der, von der Rüfe in Gang gebrachten Steine herrührt. Plötzlich bricht ſie hervor, ein ſtürmendes Unge¬ heuer, ein brüllendes, ſteinerfülltes Meer, ein Produkt der raſend¬ ſten Gewalt. Wie ſchon erwähnt, fließt oder ſtrömt ſie nicht eigent¬ lich, ſondern der wäſſerig-dünne Schlammfluß wälzt oder ſtößt Ge¬ trümmerhaufen, Etagen-hoch vor ſich her, in beſtändigem Sturzfall und doch ſofort ergänztem Wiederaufbau, eine wandernde, leben¬ dig gewordene Felſen-Ruinen-Wand. Bei einigen Rüfen gehts indeſſen gar nicht ſo ſchnell; oft lacht ſchon wieder heiterer Himmel überm Thal und die Sonne leuchtet warm drein, bis der gräßliche Unhold aus ſeinem Hinterhalte hervorbricht. Dies iſt namentlich bei der Skalära-Rüfe der Fall, die dafür aber quantitativ das Meiſte liefert. Es iſt ein unbeſchreiblich hohles, Alles übertönen¬ des Gepolter, — in der Summe des tobenden Lärmes etwa der heftigſten Kanonade beim Sturm-Geheul zu vergleichen, wo der ganze Skandal, ſich zu einem großen, runden, brauſenden, krachen¬ den Tonballen ineinander verwebt, der ſtundenweit hörbar iſt.
Nun gilt es nur, das Ungethüm im Gange zu erhalten. Baut ſie einmal einen Querdamm aus ihren zentnerſchweren Steinkoloſſen auf, häuft ſich hinter demſelben einmal die andrän¬ gende Maſſe, können die am Ufer mit großen Haken und Stangen beſchäftigten, ſchreienden Anwohner nicht irgendwo eine Breſche
Berlepſch, die Alpen. 13
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Die Rüfe.
dener Stier, der in blinder Wuth keinen Weg ſieht, mit zu Bo¬
den geſenktem Haupt in die Erde hineinwühlt, eine Welt auf
ſeine Hörner nehmen würde und dem Abgrund zutobt, in dem er
ſein Grab findet.
Die Rüfe beginnt nicht mit Vorboten kleiner Waſſerſendungen,
mit irgend einigen introducirenden Symptomen; man hört ſie
höchſtens von Weitem tobend anrücken, oft (wenn das Wetter,
welches ſie erzeugte, lange andauert) verſchwommen mit dem heil¬
loſen Aufruhr in den Lüften, ſo daß man nicht unterſcheiden kann,
was zurückgeworfener Widerhall des Donners aus den Klüften iſt
und was vom Stürzen der, von der Rüfe in Gang gebrachten
Steine herrührt. Plötzlich bricht ſie hervor, ein ſtürmendes Unge¬
heuer, ein brüllendes, ſteinerfülltes Meer, ein Produkt der raſend¬
ſten Gewalt. Wie ſchon erwähnt, fließt oder ſtrömt ſie nicht eigent¬
lich, ſondern der wäſſerig-dünne Schlammfluß wälzt oder ſtößt Ge¬
trümmerhaufen, Etagen-hoch vor ſich her, in beſtändigem Sturzfall
und doch ſofort ergänztem Wiederaufbau, eine wandernde, leben¬
dig gewordene Felſen-Ruinen-Wand. Bei einigen Rüfen gehts
indeſſen gar nicht ſo ſchnell; oft lacht ſchon wieder heiterer Himmel
überm Thal und die Sonne leuchtet warm drein, bis der gräßliche
Unhold aus ſeinem Hinterhalte hervorbricht. Dies iſt namentlich
bei der Skalära-Rüfe der Fall, die dafür aber quantitativ das
Meiſte liefert. Es iſt ein unbeſchreiblich hohles, Alles übertönen¬
des Gepolter, — in der Summe des tobenden Lärmes etwa der
heftigſten Kanonade beim Sturm-Geheul zu vergleichen, wo der
ganze Skandal, ſich zu einem großen, runden, brauſenden, krachen¬
den Tonballen ineinander verwebt, der ſtundenweit hörbar iſt.
Nun gilt es nur, das Ungethüm im Gange zu erhalten.
Baut ſie einmal einen Querdamm aus ihren zentnerſchweren
Steinkoloſſen auf, häuft ſich hinter demſelben einmal die andrän¬
gende Maſſe, können die am Ufer mit großen Haken und Stangen
beſchäftigten, ſchreienden Anwohner nicht irgendwo eine Breſche
Berlepſch, die Alpen. 13
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/221>, abgerufen am 21.11.2024.
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