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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Die Rüfe.
hell, hoch herab. Ein Steinwurf nach dem Fichtengipfel jagt
einen Buntspecht auf, der lachend davon fliegt. Hoho! wenn das
Teufelaustreiben so rasch geht, dann ist's eine billige Kunst.

Für den, der im Gebirgswandern nicht schon etwas Takt
erlangt hat, ist's unrathsam, gegen die Tiefe des Skalära-Tobels
aufwärts klimmend, ohne Führer vorzudringen. Im Sommer 1859
botanisirte ein norddeutscher Apotheker in dieser Wildniß, verstieg
sich, so daß er weder vorwärts noch zurück konnte, und mußte eine
ganze lange Nacht auf schmalem Rasenband an jäher Felsenfluh
zubringen, bis man ihn am andern Morgen fand und sehr ermattet
nach Chur brachte.

Und nun der Losbruch einer Rüfe selbst, d. h. die plötzlich
eintretende Entladung eines Gewitters, eines Wolkenbruches und,
in Folge dessen, die aus dem Hintergrunde eines solchen Tobels
hereinbrechenden, von allen Jähhängen, aus allen Berg- und
Schlucht-Runsen zusammengeronnenen, unten im Bett der Rüfe
sich vereinigenden Wildwasser! Es ist eine Thätigkeit entfesselter
Gewalten in der Natur, die an furchtbarer Großartigkeit und
Zerstörungskraft der schrecklichen Lauine gleichsteht. Das ist nicht
jenes schäumende, in tausend Kaskaden herabfluthende, immer wilde
Schauspiel eines angeschwollenen Bergstromes, -- das ist eine
dicke schwarze Schlammsuppe, die mit schwerfälliger Geschwindig¬
keit, mit roher, plumper Hast sich bewegt. Ihr fehlt das dem
Wasser, selbst in der wildesten Aufregung, immer eigenthümlich
Graziöse der Bewegung, die Leichtigkeit der galoppirenden über¬
müthig-jagenden, brandenden, sich überschlagenden oder zerberstenden
und schaumaufspritzenden Wellen; hier ist Alles bestialisch, brutal,
dämonisch. -- Der angeschwollene Bergstrom ist einem scheuge¬
wordenen, muthig-edlen Rosse zu vergleichen, das ventre-a-terre
durchgeht, aber dennoch bei seiner entfesselten, jagenden Wild¬
heit immer die Straßenlinie nicht aus den Augen verliert, auf der
es fortstürmt; -- die brüllende Rüfe dagegen ist ein rasend gewor¬

Die Rüfe.
hell, hoch herab. Ein Steinwurf nach dem Fichtengipfel jagt
einen Buntſpecht auf, der lachend davon fliegt. Hoho! wenn das
Teufelaustreiben ſo raſch geht, dann iſt's eine billige Kunſt.

Für den, der im Gebirgswandern nicht ſchon etwas Takt
erlangt hat, iſt's unrathſam, gegen die Tiefe des Skalära-Tobels
aufwärts klimmend, ohne Führer vorzudringen. Im Sommer 1859
botaniſirte ein norddeutſcher Apotheker in dieſer Wildniß, verſtieg
ſich, ſo daß er weder vorwärts noch zurück konnte, und mußte eine
ganze lange Nacht auf ſchmalem Raſenband an jäher Felſenfluh
zubringen, bis man ihn am andern Morgen fand und ſehr ermattet
nach Chur brachte.

Und nun der Losbruch einer Rüfe ſelbſt, d. h. die plötzlich
eintretende Entladung eines Gewitters, eines Wolkenbruches und,
in Folge deſſen, die aus dem Hintergrunde eines ſolchen Tobels
hereinbrechenden, von allen Jähhängen, aus allen Berg- und
Schlucht-Runſen zuſammengeronnenen, unten im Bett der Rüfe
ſich vereinigenden Wildwaſſer! Es iſt eine Thätigkeit entfeſſelter
Gewalten in der Natur, die an furchtbarer Großartigkeit und
Zerſtörungskraft der ſchrecklichen Lauine gleichſteht. Das iſt nicht
jenes ſchäumende, in tauſend Kaskaden herabfluthende, immer wilde
Schauſpiel eines angeſchwollenen Bergſtromes, — das iſt eine
dicke ſchwarze Schlammſuppe, die mit ſchwerfälliger Geſchwindig¬
keit, mit roher, plumper Haſt ſich bewegt. Ihr fehlt das dem
Waſſer, ſelbſt in der wildeſten Aufregung, immer eigenthümlich
Graziöſe der Bewegung, die Leichtigkeit der galoppirenden über¬
müthig-jagenden, brandenden, ſich überſchlagenden oder zerberſtenden
und ſchaumaufſpritzenden Wellen; hier iſt Alles beſtialiſch, brutal,
dämoniſch. — Der angeſchwollene Bergſtrom iſt einem ſcheuge¬
wordenen, muthig-edlen Roſſe zu vergleichen, das ventre-a-terre
durchgeht, aber dennoch bei ſeiner entfeſſelten, jagenden Wild¬
heit immer die Straßenlinie nicht aus den Augen verliert, auf der
es fortſtürmt; — die brüllende Rüfe dagegen iſt ein raſend gewor¬

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[192/0220] Die Rüfe. hell, hoch herab. Ein Steinwurf nach dem Fichtengipfel jagt einen Buntſpecht auf, der lachend davon fliegt. Hoho! wenn das Teufelaustreiben ſo raſch geht, dann iſt's eine billige Kunſt. Für den, der im Gebirgswandern nicht ſchon etwas Takt erlangt hat, iſt's unrathſam, gegen die Tiefe des Skalära-Tobels aufwärts klimmend, ohne Führer vorzudringen. Im Sommer 1859 botaniſirte ein norddeutſcher Apotheker in dieſer Wildniß, verſtieg ſich, ſo daß er weder vorwärts noch zurück konnte, und mußte eine ganze lange Nacht auf ſchmalem Raſenband an jäher Felſenfluh zubringen, bis man ihn am andern Morgen fand und ſehr ermattet nach Chur brachte. Und nun der Losbruch einer Rüfe ſelbſt, d. h. die plötzlich eintretende Entladung eines Gewitters, eines Wolkenbruches und, in Folge deſſen, die aus dem Hintergrunde eines ſolchen Tobels hereinbrechenden, von allen Jähhängen, aus allen Berg- und Schlucht-Runſen zuſammengeronnenen, unten im Bett der Rüfe ſich vereinigenden Wildwaſſer! Es iſt eine Thätigkeit entfeſſelter Gewalten in der Natur, die an furchtbarer Großartigkeit und Zerſtörungskraft der ſchrecklichen Lauine gleichſteht. Das iſt nicht jenes ſchäumende, in tauſend Kaskaden herabfluthende, immer wilde Schauſpiel eines angeſchwollenen Bergſtromes, — das iſt eine dicke ſchwarze Schlammſuppe, die mit ſchwerfälliger Geſchwindig¬ keit, mit roher, plumper Haſt ſich bewegt. Ihr fehlt das dem Waſſer, ſelbſt in der wildeſten Aufregung, immer eigenthümlich Graziöſe der Bewegung, die Leichtigkeit der galoppirenden über¬ müthig-jagenden, brandenden, ſich überſchlagenden oder zerberſtenden und ſchaumaufſpritzenden Wellen; hier iſt Alles beſtialiſch, brutal, dämoniſch. — Der angeſchwollene Bergſtrom iſt einem ſcheuge¬ wordenen, muthig-edlen Roſſe zu vergleichen, das ventre-a-terre durchgeht, aber dennoch bei ſeiner entfeſſelten, jagenden Wild¬ heit immer die Straßenlinie nicht aus den Augen verliert, auf der es fortſtürmt; — die brüllende Rüfe dagegen iſt ein raſend gewor¬

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/220>, abgerufen am 24.11.2024.