Wege und Straße waren mit festem, kompaktem Schnee 25 bis 30 Fuß hoch bedeckt, so daß man, um die Kommunikation zu öffnen, Tunnel durch die improvisirten Schneefelsen treiben mußte. Lauinen waren an Stellen herniedergekommen, wo seit Menschen¬ gedenken keine solchen gefallen waren.
Greif' an mit Gott! Dem Nächsten muß man helfen. Es kann uns Allen Gleiches ja begegnen.
Dieser Spruch in Schillers Wilhelm Tell ist eine der Lebens¬ praxis des Gebirgsvolkes abgelauschte große Wahrheit. Sie be¬ währt sich in so hohem Grade kaum irgendwo mehr als in den Alpen. Während Lässigkeit oder vielmehr ein gewisses gemächliches "Ansichkommen-Lassen" einen der unvertilgbaren Grundzüge im Charakter aller Hirtenvölker bildet, und ihr von Hause aus kontem¬ platives Wesen, ihre im langsamsten Takte vorschreitende Bedäch¬ tigkeit jeden raschen Entschluß, jede wenig überlegte Handlung zurückhält, so ist die Hilfsfreudigkeit, der aufopfernde Muth und die ans Herkulische gränzende Ausdauer bei Unglücksfällen, die durch Naturereignisse herbeigeführt wurden, wahrhaft großartig und läßt das Rein-Menschliche im herrlichsten Lichte erscheinen. "Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt." -- Es sind Stunden fieberhaft-emsigen Schaffens in bangster Erwartung, um das Leben lieber Angehörigen, Freunde, Gemeinde-Genossen oder völlig fremder unbekannter Menschen zu retten. Wo sind die rechten Stellen, an denen Vergrabene, dem Erstickungs- oder Erstarrungs-Tode nahe, mit dem gnadenlosen Feinde alles Lebenden kämpfen? Häuft nicht vielleicht jeder Spatenstich, jede Schaufel voll zur Seite ge¬ worfenen Schnees den Grabhügel nur um so höher über dem Gesuchten? Denn wunderbarerweise hören die droben Arbeitenden in der Regel kaum etwas von dem Hilferuf und dem Angstgeschrei der Verschütteten, während umgekehrt Errettete vielfach und über¬ einstimmend erzählten, jedes Wort der über ihnen Suchenden ver¬ standen, ja die Stimmen von Bekannten genau unterschieden zu
Die Lauine.
Wege und Straße waren mit feſtem, kompaktem Schnee 25 bis 30 Fuß hoch bedeckt, ſo daß man, um die Kommunikation zu öffnen, Tunnel durch die improviſirten Schneefelſen treiben mußte. Lauinen waren an Stellen herniedergekommen, wo ſeit Menſchen¬ gedenken keine ſolchen gefallen waren.
Greif' an mit Gott! Dem Nächſten muß man helfen. Es kann uns Allen Gleiches ja begegnen.
Dieſer Spruch in Schillers Wilhelm Tell iſt eine der Lebens¬ praxis des Gebirgsvolkes abgelauſchte große Wahrheit. Sie be¬ währt ſich in ſo hohem Grade kaum irgendwo mehr als in den Alpen. Während Läſſigkeit oder vielmehr ein gewiſſes gemächliches „Anſichkommen-Laſſen“ einen der unvertilgbaren Grundzüge im Charakter aller Hirtenvölker bildet, und ihr von Hauſe aus kontem¬ platives Weſen, ihre im langſamſten Takte vorſchreitende Bedäch¬ tigkeit jeden raſchen Entſchluß, jede wenig überlegte Handlung zurückhält, ſo iſt die Hilfsfreudigkeit, der aufopfernde Muth und die ans Herkuliſche gränzende Ausdauer bei Unglücksfällen, die durch Naturereigniſſe herbeigeführt wurden, wahrhaft großartig und läßt das Rein-Menſchliche im herrlichſten Lichte erſcheinen. „Der brave Mann denkt an ſich ſelbſt zuletzt.“ — Es ſind Stunden fieberhaft-emſigen Schaffens in bangſter Erwartung, um das Leben lieber Angehörigen, Freunde, Gemeinde-Genoſſen oder völlig fremder unbekannter Menſchen zu retten. Wo ſind die rechten Stellen, an denen Vergrabene, dem Erſtickungs- oder Erſtarrungs-Tode nahe, mit dem gnadenloſen Feinde alles Lebenden kämpfen? Häuft nicht vielleicht jeder Spatenſtich, jede Schaufel voll zur Seite ge¬ worfenen Schnees den Grabhügel nur um ſo höher über dem Geſuchten? Denn wunderbarerweiſe hören die droben Arbeitenden in der Regel kaum etwas von dem Hilferuf und dem Angſtgeſchrei der Verſchütteten, während umgekehrt Errettete vielfach und über¬ einſtimmend erzählten, jedes Wort der über ihnen Suchenden ver¬ ſtanden, ja die Stimmen von Bekannten genau unterſchieden zu
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Die Lauine.
Wege und Straße waren mit feſtem, kompaktem Schnee 25 bis
30 Fuß hoch bedeckt, ſo daß man, um die Kommunikation zu
öffnen, Tunnel durch die improviſirten Schneefelſen treiben mußte.
Lauinen waren an Stellen herniedergekommen, wo ſeit Menſchen¬
gedenken keine ſolchen gefallen waren.
Greif' an mit Gott! Dem Nächſten muß man helfen.
Es kann uns Allen Gleiches ja begegnen.
Dieſer Spruch in Schillers Wilhelm Tell iſt eine der Lebens¬
praxis des Gebirgsvolkes abgelauſchte große Wahrheit. Sie be¬
währt ſich in ſo hohem Grade kaum irgendwo mehr als in den
Alpen. Während Läſſigkeit oder vielmehr ein gewiſſes gemächliches
„Anſichkommen-Laſſen“ einen der unvertilgbaren Grundzüge im
Charakter aller Hirtenvölker bildet, und ihr von Hauſe aus kontem¬
platives Weſen, ihre im langſamſten Takte vorſchreitende Bedäch¬
tigkeit jeden raſchen Entſchluß, jede wenig überlegte Handlung
zurückhält, ſo iſt die Hilfsfreudigkeit, der aufopfernde Muth und
die ans Herkuliſche gränzende Ausdauer bei Unglücksfällen, die
durch Naturereigniſſe herbeigeführt wurden, wahrhaft großartig und
läßt das Rein-Menſchliche im herrlichſten Lichte erſcheinen. „Der
brave Mann denkt an ſich ſelbſt zuletzt.“ — Es ſind Stunden
fieberhaft-emſigen Schaffens in bangſter Erwartung, um das Leben
lieber Angehörigen, Freunde, Gemeinde-Genoſſen oder völlig fremder
unbekannter Menſchen zu retten. Wo ſind die rechten Stellen, an
denen Vergrabene, dem Erſtickungs- oder Erſtarrungs-Tode nahe,
mit dem gnadenloſen Feinde alles Lebenden kämpfen? Häuft
nicht vielleicht jeder Spatenſtich, jede Schaufel voll zur Seite ge¬
worfenen Schnees den Grabhügel nur um ſo höher über dem
Geſuchten? Denn wunderbarerweiſe hören die droben Arbeitenden
in der Regel kaum etwas von dem Hilferuf und dem Angſtgeſchrei
der Verſchütteten, während umgekehrt Errettete vielfach und über¬
einſtimmend erzählten, jedes Wort der über ihnen Suchenden ver¬
ſtanden, ja die Stimmen von Bekannten genau unterſchieden zu
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/231>, abgerufen am 24.11.2024.
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