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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Die Lauine.
haben. Nun versetze man sich in die peinigende, schon durch die
umgebende Kälte gräßliche Lage armer Lauinen-Opfer, und addire
das gräßliche Bewußtwerden hinzu, daß Hilfe von Freundeshand
wenige Schritte weiter auf falscher Fährte sich bis zur Erschöpfung
abmüht. -- Da, wo dann Menschen-Weisheit am Ende ist, beginnt
der feine Instinkt des Thieres, und wie der Prairie-Hund stunden¬
weit die Fährte seines Herrn oder des verirrten Kindes verfolgt
und endlich die Gesuchten findet, so ist's auch hier der treue Haus-
Genosse des Aelplers, dessen feiner Geruch die Lagerstelle Vergra¬
bener entdeckt und zur rechten Spur leitet. Der Werth der Hospiz-
Hunde vom großen St. Bernhard, Simplon und Gotthard ist zu
sprüchwörtlich geworden, und in Tschudi's herrlichem "Thierleben
der Alpenwelt" so umfassend und treu geschildert, als daß hier
ausführlicher von ihnen die Rede sein könnte.

Außerordentlich verschieden in Ursache der Entstehung, in
Charakter und Wirkung, von jenen, aus lockerzusammenhängendem
Schnee bestehenden, meist im Winter fallenden Staub-Lauinen, sind
die Schloß-, Schlag- oder Grund-Lauinen. Diese sind
ein Phänomen des Frühjahrs, wenn die Natur ihr Auferstehungs¬
fest feiert, und das Hochgebirge die winterlichen Träume aus den
Erinnerungsfalten schüttelt. Hier ists schon ganz anderes Material,
-- nicht jener sandähnlich trockene, feine Schnee, der, ein Spiel
der Lüfte, von den Winden umhergeschleudert wird, bahn- und
ziellos, -- hier ists alter "ferniger" Schnee, welcher den Winter
über an und auf den Abhängen lag, sich verdichtete, "Firn" wurde,
also eine viel kompaktere, körperfestere Gestalt annahm.

Nicht der Wind, der den Schnee wolkendick emporwirbelt,
nicht die kleinen Ursachen, welche unbedeutende Parcellen in Gang
setzen, nicht bloße Luft-Erschütterung allein, vermögen die Grund-
Lauine zum Fall zu bringen; ihren furchtbaren Sturz bereiten die
"lauen" Lüfte, die einziehende Wärme vor. Diese durchdringen
die kleinen hohlen Räumchen in den unabsehbar-großen Schnee¬

Die Lauine.
haben. Nun verſetze man ſich in die peinigende, ſchon durch die
umgebende Kälte gräßliche Lage armer Lauinen-Opfer, und addire
das gräßliche Bewußtwerden hinzu, daß Hilfe von Freundeshand
wenige Schritte weiter auf falſcher Fährte ſich bis zur Erſchöpfung
abmüht. — Da, wo dann Menſchen-Weisheit am Ende iſt, beginnt
der feine Inſtinkt des Thieres, und wie der Prairie-Hund ſtunden¬
weit die Fährte ſeines Herrn oder des verirrten Kindes verfolgt
und endlich die Geſuchten findet, ſo iſt's auch hier der treue Haus-
Genoſſe des Aelplers, deſſen feiner Geruch die Lagerſtelle Vergra¬
bener entdeckt und zur rechten Spur leitet. Der Werth der Hospiz-
Hunde vom großen St. Bernhard, Simplon und Gotthard iſt zu
ſprüchwörtlich geworden, und in Tſchudi's herrlichem „Thierleben
der Alpenwelt“ ſo umfaſſend und treu geſchildert, als daß hier
ausführlicher von ihnen die Rede ſein könnte.

Außerordentlich verſchieden in Urſache der Entſtehung, in
Charakter und Wirkung, von jenen, aus lockerzuſammenhängendem
Schnee beſtehenden, meiſt im Winter fallenden Staub-Lauinen, ſind
die Schloß-, Schlag- oder Grund-Lauinen. Dieſe ſind
ein Phänomen des Frühjahrs, wenn die Natur ihr Auferſtehungs¬
feſt feiert, und das Hochgebirge die winterlichen Träume aus den
Erinnerungsfalten ſchüttelt. Hier iſts ſchon ganz anderes Material,
— nicht jener ſandähnlich trockene, feine Schnee, der, ein Spiel
der Lüfte, von den Winden umhergeſchleudert wird, bahn- und
ziellos, — hier iſts alter „ferniger“ Schnee, welcher den Winter
über an und auf den Abhängen lag, ſich verdichtete, „Firn“ wurde,
alſo eine viel kompaktere, körperfeſtere Geſtalt annahm.

Nicht der Wind, der den Schnee wolkendick emporwirbelt,
nicht die kleinen Urſachen, welche unbedeutende Parcellen in Gang
ſetzen, nicht bloße Luft-Erſchütterung allein, vermögen die Grund-
Lauine zum Fall zu bringen; ihren furchtbaren Sturz bereiten die
lauen“ Lüfte, die einziehende Wärme vor. Dieſe durchdringen
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[202/0232] Die Lauine. haben. Nun verſetze man ſich in die peinigende, ſchon durch die umgebende Kälte gräßliche Lage armer Lauinen-Opfer, und addire das gräßliche Bewußtwerden hinzu, daß Hilfe von Freundeshand wenige Schritte weiter auf falſcher Fährte ſich bis zur Erſchöpfung abmüht. — Da, wo dann Menſchen-Weisheit am Ende iſt, beginnt der feine Inſtinkt des Thieres, und wie der Prairie-Hund ſtunden¬ weit die Fährte ſeines Herrn oder des verirrten Kindes verfolgt und endlich die Geſuchten findet, ſo iſt's auch hier der treue Haus- Genoſſe des Aelplers, deſſen feiner Geruch die Lagerſtelle Vergra¬ bener entdeckt und zur rechten Spur leitet. Der Werth der Hospiz- Hunde vom großen St. Bernhard, Simplon und Gotthard iſt zu ſprüchwörtlich geworden, und in Tſchudi's herrlichem „Thierleben der Alpenwelt“ ſo umfaſſend und treu geſchildert, als daß hier ausführlicher von ihnen die Rede ſein könnte. Außerordentlich verſchieden in Urſache der Entſtehung, in Charakter und Wirkung, von jenen, aus lockerzuſammenhängendem Schnee beſtehenden, meiſt im Winter fallenden Staub-Lauinen, ſind die Schloß-, Schlag- oder Grund-Lauinen. Dieſe ſind ein Phänomen des Frühjahrs, wenn die Natur ihr Auferſtehungs¬ feſt feiert, und das Hochgebirge die winterlichen Träume aus den Erinnerungsfalten ſchüttelt. Hier iſts ſchon ganz anderes Material, — nicht jener ſandähnlich trockene, feine Schnee, der, ein Spiel der Lüfte, von den Winden umhergeſchleudert wird, bahn- und ziellos, — hier iſts alter „ferniger“ Schnee, welcher den Winter über an und auf den Abhängen lag, ſich verdichtete, „Firn“ wurde, alſo eine viel kompaktere, körperfeſtere Geſtalt annahm. Nicht der Wind, der den Schnee wolkendick emporwirbelt, nicht die kleinen Urſachen, welche unbedeutende Parcellen in Gang ſetzen, nicht bloße Luft-Erſchütterung allein, vermögen die Grund- Lauine zum Fall zu bringen; ihren furchtbaren Sturz bereiten die „lauen“ Lüfte, die einziehende Wärme vor. Dieſe durchdringen die kleinen hohlen Räumchen in den unabſehbar-großen Schnee¬

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/232>, abgerufen am 21.11.2024.