Ablagerungen bilden. Diese schützen vermöge ihrer Dicke das darunterliegende Eis gegen die Wirkungen der Sonnenstrahlen, während der rundum frei zu Tage tretende Gletscher abschmilzt; so bilden sich jene den Maulwurfshaufen ähnlichen Hügel, die bis 12 Fuß hoch werden und meist den dreifachen Umfang ihrer Höhe einnehmen.
Alle diese fremden, dem Gletscherrücken aufgebürdeten Felsen- Rudera werden durch den Gletscher zu Thale transportirt und geben selbst eins der wesentlichsten Beweismittel von der Bewe¬ gung dieser Eisströme ab. Die Menge der auf solche Art aus den Hochregionen in die Tiefen getragenen Trümmer ist außerordentlich verschieden und läßt sich nur nach den Stirnwällen oder Front¬ moränen schätzen, welche im Laufe der Jahrtausende sich am Ende des Gletschers abgelagert haben. Die riesigsten Stirnwälle finden sich am Fuße des Bois-Gletschers im Chamouny-Thal, von denen der aus dem Jahre 1820 stammende die jüngste der großen Ab¬ lagerungen ist. Eine gräuliche Wildniß von Steinen jeder Größe und Gestalt hat alle frühere Wiesen-Kultur verdrängt, und ein jetzt bewaldeter Moränenberg von sechstausend Fuß Länge, "les Tignes" genannt, zeigt, was ein einziger Gletscher zu Thal schafft. Jetzt liegt das Dorf Lavanchi am östlichen Abhange des kolossalen ältesten Steinwalles. Einer der herniedergeschafften Fel¬ sen ist so groß, daß man ihm, als selbstständigem Individuum, einen Eigennamen: "Pierre de Lisboli" gab.
Die Thatsache, daß jeder Gletscher wandert und sich jährlich eine bestimmte Strecke vor- oder abwärts bewegt, ist eine erst neuere Entdeckung der Wissenschaft, während das Gebirgsvolk die¬ selbe schon seit Jahrhunderten kannte. So sehr dem Tiefländer die Erscheinung konstant sich fortbewegender, auf hartem Grund und Boden der Tiefe zuwandernder, spröder Eismassen befremdend sein mag, so wenig erklärlich würden dem Gebirgsbewohner still ruhende, lokal an die Scholle gebannte Eisflächen sein. -- Die
Der Gletſcher.
Ablagerungen bilden. Dieſe ſchützen vermöge ihrer Dicke das darunterliegende Eis gegen die Wirkungen der Sonnenſtrahlen, während der rundum frei zu Tage tretende Gletſcher abſchmilzt; ſo bilden ſich jene den Maulwurfshaufen ähnlichen Hügel, die bis 12 Fuß hoch werden und meiſt den dreifachen Umfang ihrer Höhe einnehmen.
Alle dieſe fremden, dem Gletſcherrücken aufgebürdeten Felſen- Rudera werden durch den Gletſcher zu Thale transportirt und geben ſelbſt eins der weſentlichſten Beweismittel von der Bewe¬ gung dieſer Eisſtröme ab. Die Menge der auf ſolche Art aus den Hochregionen in die Tiefen getragenen Trümmer iſt außerordentlich verſchieden und läßt ſich nur nach den Stirnwällen oder Front¬ moränen ſchätzen, welche im Laufe der Jahrtauſende ſich am Ende des Gletſchers abgelagert haben. Die rieſigſten Stirnwälle finden ſich am Fuße des Bois-Gletſchers im Chamouny-Thal, von denen der aus dem Jahre 1820 ſtammende die jüngſte der großen Ab¬ lagerungen iſt. Eine gräuliche Wildniß von Steinen jeder Größe und Geſtalt hat alle frühere Wieſen-Kultur verdrängt, und ein jetzt bewaldeter Moränenberg von ſechstauſend Fuß Länge, „les Tignes“ genannt, zeigt, was ein einziger Gletſcher zu Thal ſchafft. Jetzt liegt das Dorf Lavanchi am öſtlichen Abhange des koloſſalen älteſten Steinwalles. Einer der herniedergeſchafften Fel¬ ſen iſt ſo groß, daß man ihm, als ſelbſtſtändigem Individuum, einen Eigennamen: „Pierre de Lisboli“ gab.
Die Thatſache, daß jeder Gletſcher wandert und ſich jährlich eine beſtimmte Strecke vor- oder abwärts bewegt, iſt eine erſt neuere Entdeckung der Wiſſenſchaft, während das Gebirgsvolk die¬ ſelbe ſchon ſeit Jahrhunderten kannte. So ſehr dem Tiefländer die Erſcheinung konſtant ſich fortbewegender, auf hartem Grund und Boden der Tiefe zuwandernder, ſpröder Eismaſſen befremdend ſein mag, ſo wenig erklärlich würden dem Gebirgsbewohner ſtill ruhende, lokal an die Scholle gebannte Eisflächen ſein. — Die
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Der Gletſcher .
Ablagerungen bilden. Dieſe ſchützen vermöge ihrer Dicke das
darunterliegende Eis gegen die Wirkungen der Sonnenſtrahlen,
während der rundum frei zu Tage tretende Gletſcher abſchmilzt; ſo
bilden ſich jene den Maulwurfshaufen ähnlichen Hügel, die bis 12
Fuß hoch werden und meiſt den dreifachen Umfang ihrer Höhe
einnehmen.
Alle dieſe fremden, dem Gletſcherrücken aufgebürdeten Felſen-
Rudera werden durch den Gletſcher zu Thale transportirt und
geben ſelbſt eins der weſentlichſten Beweismittel von der Bewe¬
gung dieſer Eisſtröme ab. Die Menge der auf ſolche Art aus den
Hochregionen in die Tiefen getragenen Trümmer iſt außerordentlich
verſchieden und läßt ſich nur nach den Stirnwällen oder Front¬
moränen ſchätzen, welche im Laufe der Jahrtauſende ſich am Ende
des Gletſchers abgelagert haben. Die rieſigſten Stirnwälle finden
ſich am Fuße des Bois-Gletſchers im Chamouny-Thal, von denen
der aus dem Jahre 1820 ſtammende die jüngſte der großen Ab¬
lagerungen iſt. Eine gräuliche Wildniß von Steinen jeder Größe
und Geſtalt hat alle frühere Wieſen-Kultur verdrängt, und
ein jetzt bewaldeter Moränenberg von ſechstauſend Fuß Länge,
„les Tignes“ genannt, zeigt, was ein einziger Gletſcher zu Thal
ſchafft. Jetzt liegt das Dorf Lavanchi am öſtlichen Abhange des
koloſſalen älteſten Steinwalles. Einer der herniedergeſchafften Fel¬
ſen iſt ſo groß, daß man ihm, als ſelbſtſtändigem Individuum,
einen Eigennamen: „Pierre de Lisboli“ gab.
Die Thatſache, daß jeder Gletſcher wandert und ſich jährlich
eine beſtimmte Strecke vor- oder abwärts bewegt, iſt eine erſt
neuere Entdeckung der Wiſſenſchaft, während das Gebirgsvolk die¬
ſelbe ſchon ſeit Jahrhunderten kannte. So ſehr dem Tiefländer
die Erſcheinung konſtant ſich fortbewegender, auf hartem Grund
und Boden der Tiefe zuwandernder, ſpröder Eismaſſen befremdend
ſein mag, ſo wenig erklärlich würden dem Gebirgsbewohner ſtill
ruhende, lokal an die Scholle gebannte Eisflächen ſein. — Die
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/265>, abgerufen am 24.11.2024.
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