Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Gletscher. thal und Unterwallis anrichteten. Ersteres stellt fünf Stundenoberhalb Sembranchier einen sehr engen Schlund dar, im Sü¬ den von dem steilen Bollwerk des Mauvoisin, gen Norden von dem 11400 Fuß hohen Mont Pleureur beherrscht, dessen Fuß eine etwa 500 Fuß hohe Felsenwand bildet. Ueber diese hängt, von den hohen Firn-Regionen herniederkommend, der Gietroz-Gletscher. Zu allen Jahreszeiten und fast täglich stürzen von demselben un¬ förmliche Eislasten ins Thal hernieder, häufen sich unten an der Felsenwand zu riesigen Gletschertrümmerhügeln, unter denen das wilde Thalwasser, die Dranse hervorbricht. Während der Jahre 1815 bis 1818 hatten sich die Eisbrüchlinge in zuvor nie gesehener Weise vermehrt, und im Winter des zuletzt gedachten Jahres ver¬ stopfte sich der immer enger gewordene, gewölbe-ähnliche Abfluß dermaßen, daß er zuletzt gänzlich zufror und der Dranse nicht den mindesten Abfluß gestattete. Der Eisdamm zog sich quer durchs ganze Thal, lehnte sich zu beiden Seiten an die Bergwände an und hatte eine Höhe von mehr als zweihundert Fuß erreicht. Be¬ greiflich staute sich das Flußwasser immer mehr und mehr an und bildete endlich einen See, der eine halbe Stunde lang und gegen 700 Fuß breit war. Mit Entsetzen sahen die Bewohner von Lourtier, Champsec, Chables bis hinaus nach Martigny das fortwährende Wachsen der Wassermasse. Der Druck derselben wurde immer mächtiger, heftiger und es ließ sich vorausberechnen, daß beim Eintreten der warmen Jahreszeit der Damm nicht genügende Widerstandsstärke besitzen werde, um einen radikalen Durchbruch zu verhüten. Viele Ortschaften wanderten förmlich aus, indem sie beim Beginn der einigermaßen milden Jahreszeit mit Habe und Gut in die höher gelegenen Alphütten flüchteten. Ingenieure, nament¬ lich der geniale Venetz, untersuchten den Stand und riethen an: eine große Rinne in den Eisdamm zu hauen, so weit er noch nicht vom Wasser bespült sei, so daß, wenn der See noch steigen würde, er durch diese Rinne seinen allmähligen Abfluß finde; zugleich Der Gletſcher. thal und Unterwallis anrichteten. Erſteres ſtellt fünf Stundenoberhalb Sembranchier einen ſehr engen Schlund dar, im Sü¬ den von dem ſteilen Bollwerk des Mauvoisin, gen Norden von dem 11400 Fuß hohen Mont Pleureur beherrſcht, deſſen Fuß eine etwa 500 Fuß hohe Felſenwand bildet. Ueber dieſe hängt, von den hohen Firn-Regionen herniederkommend, der Gietroz-Gletſcher. Zu allen Jahreszeiten und faſt täglich ſtürzen von demſelben un¬ förmliche Eislaſten ins Thal hernieder, häufen ſich unten an der Felſenwand zu rieſigen Gletſchertrümmerhügeln, unter denen das wilde Thalwaſſer, die Dranſe hervorbricht. Während der Jahre 1815 bis 1818 hatten ſich die Eisbrüchlinge in zuvor nie geſehener Weiſe vermehrt, und im Winter des zuletzt gedachten Jahres ver¬ ſtopfte ſich der immer enger gewordene, gewölbe-ähnliche Abfluß dermaßen, daß er zuletzt gänzlich zufror und der Dranſe nicht den mindeſten Abfluß geſtattete. Der Eisdamm zog ſich quer durchs ganze Thal, lehnte ſich zu beiden Seiten an die Bergwände an und hatte eine Höhe von mehr als zweihundert Fuß erreicht. Be¬ greiflich ſtaute ſich das Flußwaſſer immer mehr und mehr an und bildete endlich einen See, der eine halbe Stunde lang und gegen 700 Fuß breit war. Mit Entſetzen ſahen die Bewohner von Lourtier, Champsec, Chables bis hinaus nach Martigny das fortwährende Wachſen der Waſſermaſſe. Der Druck derſelben wurde immer mächtiger, heftiger und es ließ ſich vorausberechnen, daß beim Eintreten der warmen Jahreszeit der Damm nicht genügende Widerſtandsſtärke beſitzen werde, um einen radikalen Durchbruch zu verhüten. Viele Ortſchaften wanderten förmlich aus, indem ſie beim Beginn der einigermaßen milden Jahreszeit mit Habe und Gut in die höher gelegenen Alphütten flüchteten. Ingenieure, nament¬ lich der geniale Venetz, unterſuchten den Stand und riethen an: eine große Rinne in den Eisdamm zu hauen, ſo weit er noch nicht vom Waſſer beſpült ſei, ſo daß, wenn der See noch ſteigen würde, er durch dieſe Rinne ſeinen allmähligen Abfluß finde; zugleich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0268" n="236"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Gletſcher</hi>.<lb/></fw>thal und Unterwallis anrichteten. 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Der Gletſcher.
thal und Unterwallis anrichteten. Erſteres ſtellt fünf Stunden
oberhalb Sembranchier einen ſehr engen Schlund dar, im Sü¬
den von dem ſteilen Bollwerk des Mauvoisin, gen Norden von
dem 11400 Fuß hohen Mont Pleureur beherrſcht, deſſen Fuß eine
etwa 500 Fuß hohe Felſenwand bildet. Ueber dieſe hängt, von
den hohen Firn-Regionen herniederkommend, der Gietroz-Gletſcher.
Zu allen Jahreszeiten und faſt täglich ſtürzen von demſelben un¬
förmliche Eislaſten ins Thal hernieder, häufen ſich unten an der
Felſenwand zu rieſigen Gletſchertrümmerhügeln, unter denen das
wilde Thalwaſſer, die Dranſe hervorbricht. Während der Jahre
1815 bis 1818 hatten ſich die Eisbrüchlinge in zuvor nie geſehener
Weiſe vermehrt, und im Winter des zuletzt gedachten Jahres ver¬
ſtopfte ſich der immer enger gewordene, gewölbe-ähnliche Abfluß
dermaßen, daß er zuletzt gänzlich zufror und der Dranſe nicht den
mindeſten Abfluß geſtattete. Der Eisdamm zog ſich quer durchs
ganze Thal, lehnte ſich zu beiden Seiten an die Bergwände an
und hatte eine Höhe von mehr als zweihundert Fuß erreicht. Be¬
greiflich ſtaute ſich das Flußwaſſer immer mehr und mehr an
und bildete endlich einen See, der eine halbe Stunde lang und
gegen 700 Fuß breit war. Mit Entſetzen ſahen die Bewohner von
Lourtier, Champsec, Chables bis hinaus nach Martigny das
fortwährende Wachſen der Waſſermaſſe. Der Druck derſelben wurde
immer mächtiger, heftiger und es ließ ſich vorausberechnen, daß
beim Eintreten der warmen Jahreszeit der Damm nicht genügende
Widerſtandsſtärke beſitzen werde, um einen radikalen Durchbruch zu
verhüten. Viele Ortſchaften wanderten förmlich aus, indem ſie
beim Beginn der einigermaßen milden Jahreszeit mit Habe und Gut
in die höher gelegenen Alphütten flüchteten. Ingenieure, nament¬
lich der geniale Venetz, unterſuchten den Stand und riethen an:
eine große Rinne in den Eisdamm zu hauen, ſo weit er noch nicht
vom Waſſer beſpült ſei, ſo daß, wenn der See noch ſteigen würde,
er durch dieſe Rinne ſeinen allmähligen Abfluß finde; zugleich
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