Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Alpenspitzen.
ungemein. Vortrefflich schildert dies Studer in seinen Gletscher¬
fahrten: "Die Aussicht von der Jungfrau ist mehr erhaben als
schön. Ja, auf das Gemüth desjenigen, der zum Erstenmal ihre
Zinne betritt und dem sie die kolossalen, in ihrer ernsten Pracht fast
unheimlich aussehenden Bilder des Umkreises enthüllt, wirkt sie
wahrhaft erschütternd. Das Bunte, Reizende fehlt; kein blauer
See erfreut dort das Auge, -- denn auf den Spiegel des Thuner¬
sees blickt es so tief hinunter, daß er an Farbe und Charakter
einem düsteren Alpensee ähnlich, zwischen öden, baumlosen Berg¬
höhen zu liegen scheint. Die lieblichen Landflächen sind zu ent¬
fernt, um ihren Reiz zu entfalten. Das trübe Grau, das sie wie
eine Dämmerung bedeckt, verschwimmt in dem finsteren Dunst, der
den weiten Horizont gestaltlos umzieht und keine Formen, keine
Farbe mehr erkennen läßt. Im weiten Kreise begränzt von den
farblosen Niederungen oder dem düsteren Horizonte breitet sich
eine Welt von zerrissenen Gletschern, schneeigen Hochthälern,
mannigfach verschlungenen Firn- u. Felsenkämmen aus, über welcher
man in schauerlicher Einsamkeit thront und welche unter dem
schwarzblauen Firmamente von dem gebrochenen Lichtschimmer einer
mattstrahlenden Sonne beleuchtet ist. Der Tödi, der die ganze
östliche Schweiz dominirt, bietet einen unermeßlichen Gesichtskreis
dar; man kann sagen, man sieht nur zu viel. Das Einzelne ver¬
schwindet unter dem Ganzen, und auch dort verschwimmen die ent¬
fernten Niederungen in nebeligen Dunst, und das ungeheuere Alpen¬
gebiet, das man übersieht, zeigt wenige einzelne, großartige
Gruppen oder Gebilde, die das Auge vorzugsweise fesseln. Die
Berner Hochalpen und Bernina sind schon zu entfernt, um einen
sehr imposanten Eindruck hervorzubringen. -- Dagegen erhält die
Aussicht vom Mont Velan (11588 Fuß üb. d. M.) ihren hohen Reiz
gerade durch das großartige, malerische Bild und den so verschieden¬
artig ausgeprägten Charakter der einzelnen sichtbaren Gebirgsgruppen.
Das Specielle tritt lohnend hervor. Das Auge muß nicht ermü¬

Alpenſpitzen.
ungemein. Vortrefflich ſchildert dies Studer in ſeinen Gletſcher¬
fahrten: „Die Ausſicht von der Jungfrau iſt mehr erhaben als
ſchön. Ja, auf das Gemüth desjenigen, der zum Erſtenmal ihre
Zinne betritt und dem ſie die koloſſalen, in ihrer ernſten Pracht faſt
unheimlich ausſehenden Bilder des Umkreiſes enthüllt, wirkt ſie
wahrhaft erſchütternd. Das Bunte, Reizende fehlt; kein blauer
See erfreut dort das Auge, — denn auf den Spiegel des Thuner¬
ſees blickt es ſo tief hinunter, daß er an Farbe und Charakter
einem düſteren Alpenſee ähnlich, zwiſchen öden, baumloſen Berg¬
höhen zu liegen ſcheint. Die lieblichen Landflächen ſind zu ent¬
fernt, um ihren Reiz zu entfalten. Das trübe Grau, das ſie wie
eine Dämmerung bedeckt, verſchwimmt in dem finſteren Dunſt, der
den weiten Horizont geſtaltlos umzieht und keine Formen, keine
Farbe mehr erkennen läßt. Im weiten Kreiſe begränzt von den
farbloſen Niederungen oder dem düſteren Horizonte breitet ſich
eine Welt von zerriſſenen Gletſchern, ſchneeigen Hochthälern,
mannigfach verſchlungenen Firn- u. Felſenkämmen aus, über welcher
man in ſchauerlicher Einſamkeit thront und welche unter dem
ſchwarzblauen Firmamente von dem gebrochenen Lichtſchimmer einer
mattſtrahlenden Sonne beleuchtet iſt. Der Tödi, der die ganze
öſtliche Schweiz dominirt, bietet einen unermeßlichen Geſichtskreis
dar; man kann ſagen, man ſieht nur zu viel. Das Einzelne ver¬
ſchwindet unter dem Ganzen, und auch dort verſchwimmen die ent¬
fernten Niederungen in nebeligen Dunſt, und das ungeheuere Alpen¬
gebiet, das man überſieht, zeigt wenige einzelne, großartige
Gruppen oder Gebilde, die das Auge vorzugsweiſe feſſeln. Die
Berner Hochalpen und Bernina ſind ſchon zu entfernt, um einen
ſehr impoſanten Eindruck hervorzubringen. — Dagegen erhält die
Ausſicht vom Mont Velan (11588 Fuß üb. d. M.) ihren hohen Reiz
gerade durch das großartige, maleriſche Bild und den ſo verſchieden¬
artig ausgeprägten Charakter der einzelnen ſichtbaren Gebirgsgruppen.
Das Specielle tritt lohnend hervor. Das Auge muß nicht ermü¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0312" n="278"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Alpen&#x017F;pitzen</hi>.<lb/></fw> ungemein. Vortrefflich &#x017F;childert dies Studer in &#x017F;einen Glet&#x017F;cher¬<lb/>
fahrten: &#x201E;Die Aus&#x017F;icht von der Jungfrau i&#x017F;t mehr erhaben als<lb/>
&#x017F;chön. Ja, auf das Gemüth desjenigen, der zum Er&#x017F;tenmal ihre<lb/>
Zinne betritt und dem &#x017F;ie die kolo&#x017F;&#x017F;alen, in ihrer ern&#x017F;ten Pracht fa&#x017F;t<lb/>
unheimlich aus&#x017F;ehenden Bilder des Umkrei&#x017F;es enthüllt, wirkt &#x017F;ie<lb/>
wahrhaft er&#x017F;chütternd. Das Bunte, Reizende fehlt; kein blauer<lb/>
See erfreut dort das Auge, &#x2014; denn auf den Spiegel des Thuner¬<lb/>
&#x017F;ees blickt es &#x017F;o tief hinunter, daß er an Farbe und Charakter<lb/>
einem dü&#x017F;teren Alpen&#x017F;ee ähnlich, zwi&#x017F;chen öden, baumlo&#x017F;en Berg¬<lb/>
höhen zu liegen &#x017F;cheint. Die lieblichen Landflächen &#x017F;ind zu ent¬<lb/>
fernt, um ihren Reiz zu entfalten. Das trübe Grau, das &#x017F;ie wie<lb/>
eine Dämmerung bedeckt, ver&#x017F;chwimmt in dem fin&#x017F;teren Dun&#x017F;t, der<lb/>
den weiten Horizont ge&#x017F;taltlos umzieht und keine Formen, keine<lb/>
Farbe mehr erkennen läßt. Im weiten Krei&#x017F;e begränzt von den<lb/>
farblo&#x017F;en Niederungen oder dem dü&#x017F;teren Horizonte breitet &#x017F;ich<lb/>
eine Welt von zerri&#x017F;&#x017F;enen Glet&#x017F;chern, &#x017F;chneeigen Hochthälern,<lb/>
mannigfach ver&#x017F;chlungenen Firn- u. Fel&#x017F;enkämmen aus, über welcher<lb/>
man in &#x017F;chauerlicher Ein&#x017F;amkeit thront und welche unter dem<lb/>
&#x017F;chwarzblauen Firmamente von dem gebrochenen Licht&#x017F;chimmer einer<lb/>
matt&#x017F;trahlenden Sonne beleuchtet i&#x017F;t. Der <hi rendition="#g">Tödi</hi>, der die ganze<lb/>
ö&#x017F;tliche Schweiz dominirt, bietet einen unermeßlichen Ge&#x017F;ichtskreis<lb/>
dar; man kann &#x017F;agen, man &#x017F;ieht nur zu viel. Das Einzelne ver¬<lb/>
&#x017F;chwindet unter dem Ganzen, und auch dort ver&#x017F;chwimmen die ent¬<lb/>
fernten Niederungen in nebeligen Dun&#x017F;t, und das ungeheuere Alpen¬<lb/>
gebiet, das man über&#x017F;ieht, zeigt wenige einzelne, großartige<lb/>
Gruppen oder Gebilde, die das Auge vorzugswei&#x017F;e fe&#x017F;&#x017F;eln. Die<lb/>
Berner Hochalpen und Bernina &#x017F;ind &#x017F;chon zu entfernt, um einen<lb/>
&#x017F;ehr impo&#x017F;anten Eindruck hervorzubringen. &#x2014; Dagegen erhält die<lb/>
Aus&#x017F;icht vom <hi rendition="#aq">Mont Velan</hi> (11588 Fuß üb. d. M.) ihren hohen Reiz<lb/>
gerade durch das großartige, maleri&#x017F;che Bild und den &#x017F;o ver&#x017F;chieden¬<lb/>
artig ausgeprägten Charakter der einzelnen &#x017F;ichtbaren Gebirgsgruppen.<lb/>
Das Specielle tritt lohnend hervor. Das Auge muß nicht ermü¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[278/0312] Alpenſpitzen. ungemein. Vortrefflich ſchildert dies Studer in ſeinen Gletſcher¬ fahrten: „Die Ausſicht von der Jungfrau iſt mehr erhaben als ſchön. Ja, auf das Gemüth desjenigen, der zum Erſtenmal ihre Zinne betritt und dem ſie die koloſſalen, in ihrer ernſten Pracht faſt unheimlich ausſehenden Bilder des Umkreiſes enthüllt, wirkt ſie wahrhaft erſchütternd. Das Bunte, Reizende fehlt; kein blauer See erfreut dort das Auge, — denn auf den Spiegel des Thuner¬ ſees blickt es ſo tief hinunter, daß er an Farbe und Charakter einem düſteren Alpenſee ähnlich, zwiſchen öden, baumloſen Berg¬ höhen zu liegen ſcheint. Die lieblichen Landflächen ſind zu ent¬ fernt, um ihren Reiz zu entfalten. Das trübe Grau, das ſie wie eine Dämmerung bedeckt, verſchwimmt in dem finſteren Dunſt, der den weiten Horizont geſtaltlos umzieht und keine Formen, keine Farbe mehr erkennen läßt. Im weiten Kreiſe begränzt von den farbloſen Niederungen oder dem düſteren Horizonte breitet ſich eine Welt von zerriſſenen Gletſchern, ſchneeigen Hochthälern, mannigfach verſchlungenen Firn- u. Felſenkämmen aus, über welcher man in ſchauerlicher Einſamkeit thront und welche unter dem ſchwarzblauen Firmamente von dem gebrochenen Lichtſchimmer einer mattſtrahlenden Sonne beleuchtet iſt. Der Tödi, der die ganze öſtliche Schweiz dominirt, bietet einen unermeßlichen Geſichtskreis dar; man kann ſagen, man ſieht nur zu viel. Das Einzelne ver¬ ſchwindet unter dem Ganzen, und auch dort verſchwimmen die ent¬ fernten Niederungen in nebeligen Dunſt, und das ungeheuere Alpen¬ gebiet, das man überſieht, zeigt wenige einzelne, großartige Gruppen oder Gebilde, die das Auge vorzugsweiſe feſſeln. Die Berner Hochalpen und Bernina ſind ſchon zu entfernt, um einen ſehr impoſanten Eindruck hervorzubringen. — Dagegen erhält die Ausſicht vom Mont Velan (11588 Fuß üb. d. M.) ihren hohen Reiz gerade durch das großartige, maleriſche Bild und den ſo verſchieden¬ artig ausgeprägten Charakter der einzelnen ſichtbaren Gebirgsgruppen. Das Specielle tritt lohnend hervor. Das Auge muß nicht ermü¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/312
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/312>, abgerufen am 24.11.2024.