O, du bist schön, erhabner Riesendom, Wenn dich der Himmel freudig überblaut, Der Sonnenaufgang einen Strahlenstrom Auf deine starren Augenlider thaut.
K. Beck.
"Alle von der Phantasie erschaffene Größe muß im Vergleich mit den Alpen klein erscheinen" sagt Bonstetten. Und in der That, es kann auf dem europäischen Kontinente wohl kaum einen gewaltigeren, erschütternderen Anblick geben als den, von geeigne¬ tem Standpunkte in der Berner Alpenkette aus (z. B. von der Höhe der Gemmi, oder vom Torrenthorn ob Leuk, oder beim Wild¬ horn am Rawyl-Paß), auf die südlich gegenüberliegenden Walliser- Alpen. Es ist ein Panorama von unbeschreiblicher Erhabenheit, von fast grauenhafter Pracht. Die großen gespaltenen Seitenthäler des Wallis erscheinen so schreckhaft ernst und dräuend, sie tauchen in ihrer, durch die schwarzgrünen Nadelwälder gestimmten finsteren Färbung so urthümlich und sagenhaft-düster im Mittelgrunde auf und kontrastiren so schaurig gegen die sie überragenden, blendend weißen Firn-Facaden, daß mancher entschlossene Berggänger nach diesem Eindruck sich besinnen würde dieselben zu betreten. Und doch ist gerade in ihren Tiefen das großartigste Naturschauspiel verborgen. Der Hintergrund des Zermatter- oder Nicolaithales und des Einfischthales werden von keinem anderen Alpthale an Majestät übertroffen, selbst nicht von dem berühmten Chamouny.
Die gianitischen Centralmassen sind aber durch spätere Er¬ schütterungen und Katastrophen wieder so entsetzlich zerspalten und umgestaltet, in neue Gruppen getrennt und in ihrer ganzen Kon¬ figuration verändert worden, daß nur der ordnende Scharfblick des Geologen deren einstigen wahrscheinlichen Zusammenhang wieder¬ herzustellen vermag. Unberechenbare chemische Umwandelungen ein¬ zelner Partieen, namentlich in den Schiefergebirgen, haben statt¬ gefunden. Hitze-Einwirkung, Dämpfe, Gas- und Säure-Durch¬ dringung, Zertrümmerung und durch Mischung entstandene Neu¬ bildung haben meilengroße Alpen-Parzellen in neue Gesteine
Das Alpengebäude.
O, du biſt ſchön, erhabner Rieſendom, Wenn dich der Himmel freudig überblaut, Der Sonnenaufgang einen Strahlenſtrom Auf deine ſtarren Augenlider thaut.
K. Beck.
„Alle von der Phantaſie erſchaffene Größe muß im Vergleich mit den Alpen klein erſcheinen“ ſagt Bonſtetten. Und in der That, es kann auf dem europäiſchen Kontinente wohl kaum einen gewaltigeren, erſchütternderen Anblick geben als den, von geeigne¬ tem Standpunkte in der Berner Alpenkette aus (z. B. von der Höhe der Gemmi, oder vom Torrenthorn ob Leuk, oder beim Wild¬ horn am Rawyl-Paß), auf die ſüdlich gegenüberliegenden Walliſer- Alpen. Es iſt ein Panorama von unbeſchreiblicher Erhabenheit, von faſt grauenhafter Pracht. Die großen geſpaltenen Seitenthäler des Wallis erſcheinen ſo ſchreckhaft ernſt und dräuend, ſie tauchen in ihrer, durch die ſchwarzgrünen Nadelwälder geſtimmten finſteren Färbung ſo urthümlich und ſagenhaft-düſter im Mittelgrunde auf und kontraſtiren ſo ſchaurig gegen die ſie überragenden, blendend weißen Firn-Façaden, daß mancher entſchloſſene Berggänger nach dieſem Eindruck ſich beſinnen würde dieſelben zu betreten. Und doch iſt gerade in ihren Tiefen das großartigſte Naturſchauſpiel verborgen. Der Hintergrund des Zermatter- oder Nicolaithales und des Einfiſchthales werden von keinem anderen Alpthale an Majeſtät übertroffen, ſelbſt nicht von dem berühmten Chamouny.
Die gianitiſchen Centralmaſſen ſind aber durch ſpätere Er¬ ſchütterungen und Kataſtrophen wieder ſo entſetzlich zerſpalten und umgeſtaltet, in neue Gruppen getrennt und in ihrer ganzen Kon¬ figuration verändert worden, daß nur der ordnende Scharfblick des Geologen deren einſtigen wahrſcheinlichen Zuſammenhang wieder¬ herzuſtellen vermag. Unberechenbare chemiſche Umwandelungen ein¬ zelner Partieen, namentlich in den Schiefergebirgen, haben ſtatt¬ gefunden. Hitze-Einwirkung, Dämpfe, Gas- und Säure-Durch¬ dringung, Zertrümmerung und durch Miſchung entſtandene Neu¬ bildung haben meilengroße Alpen-Parzellen in neue Geſteine
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[15/0033]
Das Alpengebäude.
O, du biſt ſchön, erhabner Rieſendom,
Wenn dich der Himmel freudig überblaut,
Der Sonnenaufgang einen Strahlenſtrom
Auf deine ſtarren Augenlider thaut.
K. Beck.
„Alle von der Phantaſie erſchaffene Größe muß im Vergleich
mit den Alpen klein erſcheinen“ ſagt Bonſtetten. Und in der
That, es kann auf dem europäiſchen Kontinente wohl kaum einen
gewaltigeren, erſchütternderen Anblick geben als den, von geeigne¬
tem Standpunkte in der Berner Alpenkette aus (z. B. von der
Höhe der Gemmi, oder vom Torrenthorn ob Leuk, oder beim Wild¬
horn am Rawyl-Paß), auf die ſüdlich gegenüberliegenden Walliſer-
Alpen. Es iſt ein Panorama von unbeſchreiblicher Erhabenheit, von
faſt grauenhafter Pracht. Die großen geſpaltenen Seitenthäler des
Wallis erſcheinen ſo ſchreckhaft ernſt und dräuend, ſie tauchen in
ihrer, durch die ſchwarzgrünen Nadelwälder geſtimmten finſteren
Färbung ſo urthümlich und ſagenhaft-düſter im Mittelgrunde auf
und kontraſtiren ſo ſchaurig gegen die ſie überragenden, blendend
weißen Firn-Façaden, daß mancher entſchloſſene Berggänger nach
dieſem Eindruck ſich beſinnen würde dieſelben zu betreten. Und
doch iſt gerade in ihren Tiefen das großartigſte Naturſchauſpiel
verborgen. Der Hintergrund des Zermatter- oder Nicolaithales
und des Einfiſchthales werden von keinem anderen Alpthale an
Majeſtät übertroffen, ſelbſt nicht von dem berühmten Chamouny.
Die gianitiſchen Centralmaſſen ſind aber durch ſpätere Er¬
ſchütterungen und Kataſtrophen wieder ſo entſetzlich zerſpalten und
umgeſtaltet, in neue Gruppen getrennt und in ihrer ganzen Kon¬
figuration verändert worden, daß nur der ordnende Scharfblick des
Geologen deren einſtigen wahrſcheinlichen Zuſammenhang wieder¬
herzuſtellen vermag. Unberechenbare chemiſche Umwandelungen ein¬
zelner Partieen, namentlich in den Schiefergebirgen, haben ſtatt¬
gefunden. Hitze-Einwirkung, Dämpfe, Gas- und Säure-Durch¬
dringung, Zertrümmerung und durch Miſchung entſtandene Neu¬
bildung haben meilengroße Alpen-Parzellen in neue Geſteine
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/33>, abgerufen am 24.11.2024.
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