nicht recht in den Sinn, daß es ganz in der Nähe jener Eisenbahnen, jenes drängenden, städtischen Lebens, noch eine Bauernwelt geben soll, die gewissermaßen erst auf der geschichtlich-zweiten Kulturstufe der Völker-Entwickelung steht, und ähnlich, wie die Tartaren und Mongolen, als Nomaden während eines Theiles vom Jahre, Haus und Hof, Weib und Kind verläßt, um mit dem, in Herden be¬ stehenden Reichthume tagereisenweit nach Plätzen im Gebirge zu wandern, wo frische, junge Nahrung für das Vieh wächst. Und doch ist es so. Die in den Alpen weit hinauf zerstreut liegenden Weide¬ plätze mit ungemein kräftigen, kurzen, dichten, sehr milchhaltigen Futterkräutern, bilden einen wesentlichen Theil des National-Reich¬ thumes im Gebirge und werfen jährlich viele Millionen Gulden an Gewinn ab.
Aber eben darum, weil das Aelplerleben in den Sennhütten etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches, Fremdartiges ist, so trägt der, welcher die Alpen noch nicht besuchte, gern die Romantik der landschaftlichen Umgebung, die großartigen Eindrücke der Alpenwelt, wie sie ihn aus Gemälden entgegentraten, vermischt mit einer poetisch-idealen Auffassung der Sitten, Trachten und Lebens¬ weise des Volkes, auf das Sennerleben über, und konstruirt sich ausgeschmückte Traumbilder, die in der Wirklichkeit nicht existiren.
Die Alpenwirthschaft ist ganz anders, als man sich dieselbe bisweilen denkt. Sie existirt faktisch nur während des Spätfrüh¬ lings, im Sommer und bis in die ersten Herbstmonate hinein. Während des Winters herrscht in den Alpen ebensogut Stallwirth¬ schaft, als wie überall, bei jedem Bauern. Derjenige nun, welcher mit seiner Herde während der guten Jahreszeit ins Gebirge hinauf zieht, ist ein Senn. In der Schweiz ists Aufgabe der Männer, -- in den östlichen Alpen, im bayerischen Oberlande und in Oester¬ reich meist Geschäft der Weiber, -- der "Sennerin, Almerin."
Ein Senn (romanisch ("Sejniun") ist, mit wenig Ausnahmen, ein ungemein prosaischer Gebirgsbauer. Sein Vieh ist sein Haupt¬
Sennenleben in den Alpen.
nicht recht in den Sinn, daß es ganz in der Nähe jener Eiſenbahnen, jenes drängenden, ſtädtiſchen Lebens, noch eine Bauernwelt geben ſoll, die gewiſſermaßen erſt auf der geſchichtlich-zweiten Kulturſtufe der Völker-Entwickelung ſteht, und ähnlich, wie die Tartaren und Mongolen, als Nomaden während eines Theiles vom Jahre, Haus und Hof, Weib und Kind verläßt, um mit dem, in Herden be¬ ſtehenden Reichthume tagereiſenweit nach Plätzen im Gebirge zu wandern, wo friſche, junge Nahrung für das Vieh wächſt. Und doch iſt es ſo. Die in den Alpen weit hinauf zerſtreut liegenden Weide¬ plätze mit ungemein kräftigen, kurzen, dichten, ſehr milchhaltigen Futterkräutern, bilden einen weſentlichen Theil des National-Reich¬ thumes im Gebirge und werfen jährlich viele Millionen Gulden an Gewinn ab.
Aber eben darum, weil das Aelplerleben in den Sennhütten etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches, Fremdartiges iſt, ſo trägt der, welcher die Alpen noch nicht beſuchte, gern die Romantik der landſchaftlichen Umgebung, die großartigen Eindrücke der Alpenwelt, wie ſie ihn aus Gemälden entgegentraten, vermiſcht mit einer poetiſch-idealen Auffaſſung der Sitten, Trachten und Lebens¬ weiſe des Volkes, auf das Sennerleben über, und konſtruirt ſich ausgeſchmückte Traumbilder, die in der Wirklichkeit nicht exiſtiren.
Die Alpenwirthſchaft iſt ganz anders, als man ſich dieſelbe bisweilen denkt. Sie exiſtirt faktiſch nur während des Spätfrüh¬ lings, im Sommer und bis in die erſten Herbſtmonate hinein. Während des Winters herrſcht in den Alpen ebenſogut Stallwirth¬ ſchaft, als wie überall, bei jedem Bauern. Derjenige nun, welcher mit ſeiner Herde während der guten Jahreszeit ins Gebirge hinauf zieht, iſt ein Senn. In der Schweiz iſts Aufgabe der Männer, — in den öſtlichen Alpen, im bayeriſchen Oberlande und in Oeſter¬ reich meiſt Geſchäft der Weiber, — der „Sennerin, Almerin.“
Ein Senn (romaniſch („Sejniun“) iſt, mit wenig Ausnahmen, ein ungemein proſaiſcher Gebirgsbauer. Sein Vieh iſt ſein Haupt¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0370"n="332"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Sennenleben in den Alpen</hi>.<lb/></fw> nicht recht in den Sinn, daß es ganz in der Nähe jener Eiſenbahnen,<lb/>
jenes drängenden, ſtädtiſchen Lebens, noch eine Bauernwelt geben<lb/>ſoll, die gewiſſermaßen erſt auf der geſchichtlich-zweiten Kulturſtufe<lb/>
der Völker-Entwickelung ſteht, und ähnlich, wie die Tartaren und<lb/>
Mongolen, als Nomaden während eines Theiles vom Jahre, Haus<lb/>
und Hof, Weib und Kind verläßt, um mit dem, in Herden be¬<lb/>ſtehenden Reichthume tagereiſenweit nach Plätzen im Gebirge zu<lb/>
wandern, wo friſche, junge Nahrung für das Vieh wächſt. Und doch<lb/>
iſt es ſo. Die in den Alpen weit hinauf zerſtreut liegenden Weide¬<lb/>
plätze mit ungemein kräftigen, kurzen, dichten, ſehr milchhaltigen<lb/>
Futterkräutern, bilden einen weſentlichen Theil des National-Reich¬<lb/>
thumes im Gebirge und werfen jährlich viele Millionen Gulden<lb/>
an Gewinn ab.</p><lb/><p>Aber eben darum, weil das Aelplerleben in den Sennhütten<lb/>
etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches, Fremdartiges iſt, ſo trägt<lb/>
der, welcher die Alpen noch nicht beſuchte, gern die Romantik<lb/>
der landſchaftlichen Umgebung, die großartigen Eindrücke der<lb/>
Alpenwelt, wie ſie ihn aus Gemälden entgegentraten, vermiſcht mit<lb/>
einer poetiſch-idealen Auffaſſung der Sitten, Trachten und Lebens¬<lb/>
weiſe des Volkes, auf das Sennerleben über, und konſtruirt ſich<lb/>
ausgeſchmückte Traumbilder, die in der Wirklichkeit nicht exiſtiren.</p><lb/><p>Die Alpenwirthſchaft iſt ganz anders, als man ſich dieſelbe<lb/>
bisweilen denkt. Sie exiſtirt faktiſch nur während des Spätfrüh¬<lb/>
lings, im Sommer und bis in die erſten Herbſtmonate hinein.<lb/>
Während des Winters herrſcht in den Alpen ebenſogut Stallwirth¬<lb/>ſchaft, als wie überall, bei jedem Bauern. Derjenige nun, welcher<lb/>
mit ſeiner Herde während der guten Jahreszeit ins Gebirge hinauf<lb/>
zieht, iſt ein <hirendition="#g">Senn</hi>. In der Schweiz iſts Aufgabe der Männer, —<lb/>
in den öſtlichen Alpen, im bayeriſchen Oberlande und in Oeſter¬<lb/>
reich meiſt Geſchäft der Weiber, — der „Sennerin, Almerin.“</p><lb/><p>Ein Senn (romaniſch (<hirendition="#aq">„Sejniun“</hi>) iſt, mit wenig Ausnahmen,<lb/>
ein ungemein proſaiſcher Gebirgsbauer. Sein Vieh iſt ſein Haupt¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[332/0370]
Sennenleben in den Alpen.
nicht recht in den Sinn, daß es ganz in der Nähe jener Eiſenbahnen,
jenes drängenden, ſtädtiſchen Lebens, noch eine Bauernwelt geben
ſoll, die gewiſſermaßen erſt auf der geſchichtlich-zweiten Kulturſtufe
der Völker-Entwickelung ſteht, und ähnlich, wie die Tartaren und
Mongolen, als Nomaden während eines Theiles vom Jahre, Haus
und Hof, Weib und Kind verläßt, um mit dem, in Herden be¬
ſtehenden Reichthume tagereiſenweit nach Plätzen im Gebirge zu
wandern, wo friſche, junge Nahrung für das Vieh wächſt. Und doch
iſt es ſo. Die in den Alpen weit hinauf zerſtreut liegenden Weide¬
plätze mit ungemein kräftigen, kurzen, dichten, ſehr milchhaltigen
Futterkräutern, bilden einen weſentlichen Theil des National-Reich¬
thumes im Gebirge und werfen jährlich viele Millionen Gulden
an Gewinn ab.
Aber eben darum, weil das Aelplerleben in den Sennhütten
etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches, Fremdartiges iſt, ſo trägt
der, welcher die Alpen noch nicht beſuchte, gern die Romantik
der landſchaftlichen Umgebung, die großartigen Eindrücke der
Alpenwelt, wie ſie ihn aus Gemälden entgegentraten, vermiſcht mit
einer poetiſch-idealen Auffaſſung der Sitten, Trachten und Lebens¬
weiſe des Volkes, auf das Sennerleben über, und konſtruirt ſich
ausgeſchmückte Traumbilder, die in der Wirklichkeit nicht exiſtiren.
Die Alpenwirthſchaft iſt ganz anders, als man ſich dieſelbe
bisweilen denkt. Sie exiſtirt faktiſch nur während des Spätfrüh¬
lings, im Sommer und bis in die erſten Herbſtmonate hinein.
Während des Winters herrſcht in den Alpen ebenſogut Stallwirth¬
ſchaft, als wie überall, bei jedem Bauern. Derjenige nun, welcher
mit ſeiner Herde während der guten Jahreszeit ins Gebirge hinauf
zieht, iſt ein Senn. In der Schweiz iſts Aufgabe der Männer, —
in den öſtlichen Alpen, im bayeriſchen Oberlande und in Oeſter¬
reich meiſt Geſchäft der Weiber, — der „Sennerin, Almerin.“
Ein Senn (romaniſch („Sejniun“) iſt, mit wenig Ausnahmen,
ein ungemein proſaiſcher Gebirgsbauer. Sein Vieh iſt ſein Haupt¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/370>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.