Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Geißbub. für Tritte finden, späht der Geißer Wege für sich und seine Ziegenaus. Pfeifend und johlend kriecht er wie eine Katze an den Ab¬ sätzen herum, denn er hat ein Kletterbedürfniß in den Gliedern, das ihn nicht ruhen läßt. Schwindel ist ein Ding, das nicht in seinem Begriffs-Vokabularium steht. Als J. G. Kohl auf seinen Alpenreisen einen Gotthards-Bergbauer fragte, ob denn sein Bube keine Furcht habe, an den Zacken herumzuklettern, antwortete dieser ihm: "non ha paura di cervello" d. h. er hat keine Gehirnfurcht (Schwindel); "als Säugling ist er mit Ziegenmilch genährt worden, und das giebt Berggeschick und Klettermuth." Das ist der gleiche Volksglaube wie mit dem Gemsenblut, von dem ältere Alpenbe¬ schreiber faseln, daß die Jäger es warm tränken, um den Schwindel zu verlieren. Und adlerartig-scharf bildet das Auge sich aus, eine Kräf¬ Der Geißbub. für Tritte finden, ſpäht der Geißer Wege für ſich und ſeine Ziegenaus. Pfeifend und johlend kriecht er wie eine Katze an den Ab¬ ſätzen herum, denn er hat ein Kletterbedürfniß in den Gliedern, das ihn nicht ruhen läßt. Schwindel iſt ein Ding, das nicht in ſeinem Begriffs-Vokabularium ſteht. Als J. G. Kohl auf ſeinen Alpenreiſen einen Gotthards-Bergbauer fragte, ob denn ſein Bube keine Furcht habe, an den Zacken herumzuklettern, antwortete dieſer ihm: „non ha paura di cervello“ d. h. er hat keine Gehirnfurcht (Schwindel); „als Säugling iſt er mit Ziegenmilch genährt worden, und das giebt Berggeſchick und Klettermuth.“ Das iſt der gleiche Volksglaube wie mit dem Gemſenblut, von dem ältere Alpenbe¬ ſchreiber faſeln, daß die Jäger es warm tränken, um den Schwindel zu verlieren. Und adlerartig-ſcharf bildet das Auge ſich aus, eine Kräf¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0404" n="364"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Geißbub</hi>.<lb/></fw> für Tritte finden, ſpäht der Geißer Wege für ſich und ſeine Ziegen<lb/> aus. Pfeifend und johlend kriecht er wie eine Katze an den Ab¬<lb/> ſätzen herum, denn er hat ein Kletterbedürfniß in den Gliedern,<lb/> das ihn nicht ruhen läßt. Schwindel iſt ein Ding, das nicht in<lb/> ſeinem Begriffs-Vokabularium ſteht. Als J. G. Kohl auf ſeinen<lb/> Alpenreiſen einen Gotthards-Bergbauer fragte, ob denn ſein Bube<lb/> keine Furcht habe, an den Zacken herumzuklettern, antwortete dieſer<lb/> ihm: <hi rendition="#aq">„non ha paura di cervello“</hi> d. h. er hat keine Gehirnfurcht<lb/> (Schwindel); „als Säugling iſt er mit Ziegenmilch genährt worden,<lb/> und das giebt Berggeſchick und Klettermuth.“ Das iſt der gleiche<lb/> Volksglaube wie mit dem Gemſenblut, von dem ältere Alpenbe¬<lb/> ſchreiber faſeln, daß die Jäger es warm tränken, um den Schwindel<lb/> zu verlieren.</p><lb/> <p>Und adlerartig-ſcharf bildet das Auge ſich aus, eine Kräf¬<lb/> tigung der Sehorgane, die ans Mährchenhafte gränzt. So ein<lb/> Bube zeigt uns auf ſtundenweit entfernten Höhepunkten Gemſen,<lb/> beſchreibt ihre Bewegungen und ſpecialiſirt das Terrain nach ſeinen<lb/> kleinſten Formverhältniſſen, wo der Ungeübte nur eine große, un¬<lb/> belebte Geſammtmaſſe erblickt. Aus ſolchen Buben werden dann<lb/> in der Regel auch die verwegenſten Wildheuer, die furchtloſeſten<lb/> und leidenſchaftlichſten Gemſenjäger. Ich habe Geißbuben geſehen,<lb/> die den Ernſt eines in der Schule des Lebens geſtählten Mannes<lb/> hatten; unter der braunen, verwitterten Wildheit des Antlitzes<lb/> ſchaute etwas von der kalten Energie jener Marmorgeſichter hervor,<lb/> welche die Helden alter Zeiten auszeichnete. O! Exemplare ſolcher<lb/> Jungen giebts, die, wenn ſie auf einem in der Weide liegenden<lb/> Felſenbrocken ſtehen, trotz der zerlumpten Lodenhoſe und dem<lb/> formloſen, alten Filzdeckel etwas Diktatoriſches in ihrem ganzen<lb/> Weſen haben; in dem ruhig beobachtenden Blicke, in den jugend¬<lb/> lich-entſchloſſenen Mienen des verbrannten Geſichtes, in der dreiſten,<lb/> ungezwungenen Haltung, liegt das ausgeprägte Bewußtſein: „Hier<lb/> bin <hi rendition="#g">ich</hi> Herr!“ — Und er iſts im vollſten Maße, er iſt Allein¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [364/0404]
Der Geißbub.
für Tritte finden, ſpäht der Geißer Wege für ſich und ſeine Ziegen
aus. Pfeifend und johlend kriecht er wie eine Katze an den Ab¬
ſätzen herum, denn er hat ein Kletterbedürfniß in den Gliedern,
das ihn nicht ruhen läßt. Schwindel iſt ein Ding, das nicht in
ſeinem Begriffs-Vokabularium ſteht. Als J. G. Kohl auf ſeinen
Alpenreiſen einen Gotthards-Bergbauer fragte, ob denn ſein Bube
keine Furcht habe, an den Zacken herumzuklettern, antwortete dieſer
ihm: „non ha paura di cervello“ d. h. er hat keine Gehirnfurcht
(Schwindel); „als Säugling iſt er mit Ziegenmilch genährt worden,
und das giebt Berggeſchick und Klettermuth.“ Das iſt der gleiche
Volksglaube wie mit dem Gemſenblut, von dem ältere Alpenbe¬
ſchreiber faſeln, daß die Jäger es warm tränken, um den Schwindel
zu verlieren.
Und adlerartig-ſcharf bildet das Auge ſich aus, eine Kräf¬
tigung der Sehorgane, die ans Mährchenhafte gränzt. So ein
Bube zeigt uns auf ſtundenweit entfernten Höhepunkten Gemſen,
beſchreibt ihre Bewegungen und ſpecialiſirt das Terrain nach ſeinen
kleinſten Formverhältniſſen, wo der Ungeübte nur eine große, un¬
belebte Geſammtmaſſe erblickt. Aus ſolchen Buben werden dann
in der Regel auch die verwegenſten Wildheuer, die furchtloſeſten
und leidenſchaftlichſten Gemſenjäger. Ich habe Geißbuben geſehen,
die den Ernſt eines in der Schule des Lebens geſtählten Mannes
hatten; unter der braunen, verwitterten Wildheit des Antlitzes
ſchaute etwas von der kalten Energie jener Marmorgeſichter hervor,
welche die Helden alter Zeiten auszeichnete. O! Exemplare ſolcher
Jungen giebts, die, wenn ſie auf einem in der Weide liegenden
Felſenbrocken ſtehen, trotz der zerlumpten Lodenhoſe und dem
formloſen, alten Filzdeckel etwas Diktatoriſches in ihrem ganzen
Weſen haben; in dem ruhig beobachtenden Blicke, in den jugend¬
lich-entſchloſſenen Mienen des verbrannten Geſichtes, in der dreiſten,
ungezwungenen Haltung, liegt das ausgeprägte Bewußtſein: „Hier
bin ich Herr!“ — Und er iſts im vollſten Maße, er iſt Allein¬
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |