Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Geißbub. in die er sich flüchtet. Ists aber ein kalter, regnerischer Sommer,dann hat der arme, barfußlaufende Tropf höchstens einen alten Sack über die Schultern zum Schutz gegen die Nässe. Dessen un¬ geachtet ist er fröhlich und scheint die Unbilden der Witterung wenig zu fühlen. Abends dann treibt er heim, hat seinen Hut mit Alpenblumen geschmückt, und kehrt so frisch und kräftig ins Dorf zurück, als er am Morgen auszog. So gehts vom frühen Frühjahr bis in den Spätherbst. Und als baaren Lohn erhält er fürs Stück jährlich zwei bis drei Batzen. Es gehört eben Gei߬ bubenstoff zu solch einem Menschen. Am Südabhange der Alpen giebts große prachtvolle, lang¬ Das Geißhirtenleben hat auch seine schauerlich-romantische Berlepsch, die Alpen. 24
Der Geißbub. in die er ſich flüchtet. Iſts aber ein kalter, regneriſcher Sommer,dann hat der arme, barfußlaufende Tropf höchſtens einen alten Sack über die Schultern zum Schutz gegen die Näſſe. Deſſen un¬ geachtet iſt er fröhlich und ſcheint die Unbilden der Witterung wenig zu fühlen. Abends dann treibt er heim, hat ſeinen Hut mit Alpenblumen geſchmückt, und kehrt ſo friſch und kräftig ins Dorf zurück, als er am Morgen auszog. So gehts vom frühen Frühjahr bis in den Spätherbſt. Und als baaren Lohn erhält er fürs Stück jährlich zwei bis drei Batzen. Es gehört eben Gei߬ bubenſtoff zu ſolch einem Menſchen. Am Südabhange der Alpen giebts große prachtvolle, lang¬ Das Geißhirtenleben hat auch ſeine ſchauerlich-romantiſche Berlepſch, die Alpen. 24
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Der Geißbub.
in die er ſich flüchtet. Iſts aber ein kalter, regneriſcher Sommer,
dann hat der arme, barfußlaufende Tropf höchſtens einen alten
Sack über die Schultern zum Schutz gegen die Näſſe. Deſſen un¬
geachtet iſt er fröhlich und ſcheint die Unbilden der Witterung
wenig zu fühlen. Abends dann treibt er heim, hat ſeinen Hut
mit Alpenblumen geſchmückt, und kehrt ſo friſch und kräftig ins
Dorf zurück, als er am Morgen auszog. So gehts vom frühen
Frühjahr bis in den Spätherbſt. Und als baaren Lohn erhält
er fürs Stück jährlich zwei bis drei Batzen. Es gehört eben Gei߬
bubenſtoff zu ſolch einem Menſchen.
Am Südabhange der Alpen giebts große prachtvolle, lang¬
haarige Thiere. Im Herbſt, wenn ſie keine Milch mehr geben,
werden ſie in die Wälder getrieben, ohne Aufſicht und Huth ſich
ſelber überlaſſen, und erſt im Frühjahr, wenn ſie dem Gitzelen nahe
ſind, halb verwildert wieder eingefangen. Nach Belgien, Frank¬
reich und England werden die zarten Ziegenfelle in großen Maſſen
zur Verwendung für Glacé-Handſchuhe ausgeführt. Ob wohl eine
unſerer ſchönen Leſerinnen ſchon je daran gedacht hat, wenn ſie
ihre feinen, weichen, dehnbaren und parfümirten Handſchuhe anzog,
daß der Stoff dazu aus den wildeſten und entlegenſten Gegenden
der Alpen ſtamme, wo die „Gizzi“ und ihr Bub ein armſeliges,
dürftiges, aber freies Leben friſten?
Das Geißhirtenleben hat auch ſeine ſchauerlich-romantiſche
Seite. Wenn Nachts die Eulen in den Wäldern ſchreien, daß es
wie ein hölliſches Jauchzen klingt, ähnlich wie mans beim Heuet
in den Bergen hört, dann ſagt das Volk, es ſei „der wilde Gei߬
ler.“ Mit dem ſoll es folgende Bewandniß haben. Ein großer
Geißbube, der vor Uebermuth und Langeweile oft nicht wußte,
womit er die Zeit ſich vertreiben ſollte und ſchon tauſend tolle
Streiche mit ſeinen Thieren begonnen hatte, gerieth auf den Ein¬
fall, einen großen, ſtarken Bock zu kreuzigen, d. h. ihn an ein aus
rohen Baumſtämmen improviſirtes Kreuz mit Schlingpflanzen oder
Berlepſch, die Alpen. 24
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