nicht ablegen darf, weil er zu seinem Schutz bei Schritt und Tritt mit den Stachel-Sohlen sich am Boden einbohren muß.
Diese ungeheuerlichen Gegenden, die fast einem Besitzthum im Monde gleich zu achten sind, weil ihr Werth erst durch die Tollkühnheit des Wagehalses geschaffen wird, der, um der Aussicht auf einen dürfti¬ gen Gewinn halber, sein Leben als Einsatz riskirt, -- diese kulturun¬ fähigen Wildnisse, sollte man meinen, müßten Gemeingut alles Alpen¬ volkes, ein und desselben politisch zusammengehörenden Landes sein. O nein. Die Eroberungssucht und Habgier des Menschen und dessen Bestreben, durch Verträge seinen Besitzstand sicher zu stellen, dringt auf Erden so weit, als das Auge zu reichen vermag. Da, wo Gränzsteine und trennende Holzhäge oder tiefeingeschnittene Runsen und Tobel als natürliche Gränzen des Mein und Dein im Gebirge nicht sichtbar scheiden, läuft die Gemeinde-March eines Alpendorfes in idealer Linie über geborstene Felsenzacken und um¬ nachtete Abgründe, über Gletscher und Firnfelder, durch Wüste¬ neien, in welche vielleicht noch nie eines Menschen Fuß hindrang.
Aber innerhalb dieser Gemeinde-Gränzen handelt es sich um Aufstellung einer zweiten Linie, welche die guten, für den Weide¬ gang brauchbaren Alpenmatten von den gefährlichen Grashalden oder "Bösenen" trennt, -- und diese steht nicht allenthalben fest. Darum herrscht selbst hier oben, in diesen wildesten Gegenden des Gebirges, der alte, wohl nimmer endende Hader zwischen den Schicksals-Antipoden "Arm" und "Reich." -- Denn der habliche, im Bewußtsein des Besitzes sich fühlende Bauer, der so glücklich ist, ein ganzes Sennthum Vieh zur Sömmerung auf die Alpen treiben zu können, der seine Stimme im Gemeinderathe mit Nach¬ druck erheben darf, weil er zur Geld-Aristokratie des Dorfes zählt, dieser will sich den Vollgenuß seiner Privat- oder Kommunal- Rechte nicht um einen Zoll schmälern lassen und begehrt nach altem Landesbrauch die wachsenden Kräuter zur Weide für sein Vieh, "so weit man mit Kuh und Kalb ätzen könne." Dies ist
Der Wildheuer.
nicht ablegen darf, weil er zu ſeinem Schutz bei Schritt und Tritt mit den Stachel-Sohlen ſich am Boden einbohren muß.
Dieſe ungeheuerlichen Gegenden, die faſt einem Beſitzthum im Monde gleich zu achten ſind, weil ihr Werth erſt durch die Tollkühnheit des Wagehalſes geſchaffen wird, der, um der Ausſicht auf einen dürfti¬ gen Gewinn halber, ſein Leben als Einſatz riskirt, — dieſe kulturun¬ fähigen Wildniſſe, ſollte man meinen, müßten Gemeingut alles Alpen¬ volkes, ein und deſſelben politiſch zuſammengehörenden Landes ſein. O nein. Die Eroberungsſucht und Habgier des Menſchen und deſſen Beſtreben, durch Verträge ſeinen Beſitzſtand ſicher zu ſtellen, dringt auf Erden ſo weit, als das Auge zu reichen vermag. Da, wo Gränzſteine und trennende Holzhäge oder tiefeingeſchnittene Runſen und Tobel als natürliche Gränzen des Mein und Dein im Gebirge nicht ſichtbar ſcheiden, läuft die Gemeinde-March eines Alpendorfes in idealer Linie über geborſtene Felſenzacken und um¬ nachtete Abgründe, über Gletſcher und Firnfelder, durch Wüſte¬ neien, in welche vielleicht noch nie eines Menſchen Fuß hindrang.
Aber innerhalb dieſer Gemeinde-Gränzen handelt es ſich um Aufſtellung einer zweiten Linie, welche die guten, für den Weide¬ gang brauchbaren Alpenmatten von den gefährlichen Grashalden oder „Böſenen“ trennt, — und dieſe ſteht nicht allenthalben feſt. Darum herrſcht ſelbſt hier oben, in dieſen wildeſten Gegenden des Gebirges, der alte, wohl nimmer endende Hader zwiſchen den Schickſals-Antipoden „Arm“ und „Reich.“ — Denn der habliche, im Bewußtſein des Beſitzes ſich fühlende Bauer, der ſo glücklich iſt, ein ganzes Sennthum Vieh zur Sömmerung auf die Alpen treiben zu können, der ſeine Stimme im Gemeinderathe mit Nach¬ druck erheben darf, weil er zur Geld-Ariſtokratie des Dorfes zählt, dieſer will ſich den Vollgenuß ſeiner Privat- oder Kommunal- Rechte nicht um einen Zoll ſchmälern laſſen und begehrt nach altem Landesbrauch die wachſenden Kräuter zur Weide für ſein Vieh, „ſo weit man mit Kuh und Kalb ätzen könne.“ Dies iſt
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Der Wildheuer.
nicht ablegen darf, weil er zu ſeinem Schutz bei Schritt und Tritt
mit den Stachel-Sohlen ſich am Boden einbohren muß.
Dieſe ungeheuerlichen Gegenden, die faſt einem Beſitzthum im
Monde gleich zu achten ſind, weil ihr Werth erſt durch die Tollkühnheit
des Wagehalſes geſchaffen wird, der, um der Ausſicht auf einen dürfti¬
gen Gewinn halber, ſein Leben als Einſatz riskirt, — dieſe kulturun¬
fähigen Wildniſſe, ſollte man meinen, müßten Gemeingut alles Alpen¬
volkes, ein und deſſelben politiſch zuſammengehörenden Landes ſein.
O nein. Die Eroberungsſucht und Habgier des Menſchen und
deſſen Beſtreben, durch Verträge ſeinen Beſitzſtand ſicher zu
ſtellen, dringt auf Erden ſo weit, als das Auge zu reichen vermag.
Da, wo Gränzſteine und trennende Holzhäge oder tiefeingeſchnittene
Runſen und Tobel als natürliche Gränzen des Mein und Dein
im Gebirge nicht ſichtbar ſcheiden, läuft die Gemeinde-March eines
Alpendorfes in idealer Linie über geborſtene Felſenzacken und um¬
nachtete Abgründe, über Gletſcher und Firnfelder, durch Wüſte¬
neien, in welche vielleicht noch nie eines Menſchen Fuß hindrang.
Aber innerhalb dieſer Gemeinde-Gränzen handelt es ſich um
Aufſtellung einer zweiten Linie, welche die guten, für den Weide¬
gang brauchbaren Alpenmatten von den gefährlichen Grashalden
oder „Böſenen“ trennt, — und dieſe ſteht nicht allenthalben feſt.
Darum herrſcht ſelbſt hier oben, in dieſen wildeſten Gegenden des
Gebirges, der alte, wohl nimmer endende Hader zwiſchen den
Schickſals-Antipoden „Arm“ und „Reich.“ — Denn der habliche,
im Bewußtſein des Beſitzes ſich fühlende Bauer, der ſo glücklich
iſt, ein ganzes Sennthum Vieh zur Sömmerung auf die Alpen
treiben zu können, der ſeine Stimme im Gemeinderathe mit Nach¬
druck erheben darf, weil er zur Geld-Ariſtokratie des Dorfes zählt,
dieſer will ſich den Vollgenuß ſeiner Privat- oder Kommunal-
Rechte nicht um einen Zoll ſchmälern laſſen und begehrt nach
altem Landesbrauch die wachſenden Kräuter zur Weide für ſein
Vieh, „ſo weit man mit Kuh und Kalb ätzen könne.“ Dies iſt
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/417>, abgerufen am 22.11.2024.
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