Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Wildheuer.

Nicht alles Heu, welches im Winter ab den Bergen geschlittet
wird, ist nur Wildheu; es giebt auch Bergwiesen, die ebenso be¬
wirthschaftet werden wie die im Thale liegenden fetten oder "Mahd-
Wiesen." Liegen diese nun zu entfernt vom Dorfe oder des
Eigenthümers "Heimet", dann wird der Ernte-Ertrag derselben,
ebenso wie das Wildheu in Gäden aufgespeichert, und entweder
an Ort und Stelle im Winter gefüttert, oder in angegebener Weise
zu Thal geschlittet. -- Die Verwegenheit und das Geschick, mit
denen der Heuschlitter seine, ihn hoch überragende, mehrere Zentner
wuchtige Ladung dirigirt, ist bewundernswürdig. Völlig vertraut
mit den Gefahren, welche ihn bedrohen, kennt er die (jetzt mit
Schnee ausgefüllten) Schluchten, durch welche seine Eisbahn läuft,
bis in die kleinste Einzelnheit genau; mit scharfem Blick und siche¬
rer Berechnung zirkelt er die Bogenfahrt ab, so daß er pfeilschnellen
Fluges dicht am schauerlichen Abgrunde mit seiner Last vorüber¬
stürmt; -- nur wenig Fuß Fehlberechnung in der Curve, würde
ihn hinabschleudern in Untiefen, aus denen es keine Rückkehr giebt.

"Dem Muthigen hilft Gott" und "Kein Muthiger erbleicht
vor kühner That!" Diese Worte Schillers finden volle Anwen¬
dung auf alle Wildheuer, namentlich aber auch auf jenen tollküh¬
nen Molliser (Kanton Glarus), der einst von den Heubergen unterm
Frohnalpstock bei seiner Fahrt zu Thal den allerdirektesten und
schnurgeradesten Weg über die treppenförmig sich abtiefenden Fluh¬
ätze nahm. Sichere Zeichen verkündeten ihm, als er droben ge¬
laden hatte, daß Lauinenstürze zu befürchten ständen. Mehrere Stel¬
len seines gewöhnlichen Weges lagen in den Schreckensbahnen
dieser Donnergrüße des Winters; ihm drohte der entsetzliche Tod:
verschüttet zu werden. Jede Minute Zögerung vergrößerte die Ge¬
fahr. Da entschloß er sich kurz, befahl dem Himmel seine Seele
und wählte unter zwei Schrecknissen das kleinere. Wer das Ter¬
rain kennt, hält solch ein Unternehmen für Wahnwitz; denn es ist
weitaus mehr Wahrscheinlichkeit, daß der Wagehals dabei um¬

Der Wildheuer.

Nicht alles Heu, welches im Winter ab den Bergen geſchlittet
wird, iſt nur Wildheu; es giebt auch Bergwieſen, die ebenſo be¬
wirthſchaftet werden wie die im Thale liegenden fetten oder „Mahd-
Wieſen.“ Liegen dieſe nun zu entfernt vom Dorfe oder des
Eigenthümers „Heimet“, dann wird der Ernte-Ertrag derſelben,
ebenſo wie das Wildheu in Gäden aufgeſpeichert, und entweder
an Ort und Stelle im Winter gefüttert, oder in angegebener Weiſe
zu Thal geſchlittet. — Die Verwegenheit und das Geſchick, mit
denen der Heuſchlitter ſeine, ihn hoch überragende, mehrere Zentner
wuchtige Ladung dirigirt, iſt bewundernswürdig. Völlig vertraut
mit den Gefahren, welche ihn bedrohen, kennt er die (jetzt mit
Schnee ausgefüllten) Schluchten, durch welche ſeine Eisbahn läuft,
bis in die kleinſte Einzelnheit genau; mit ſcharfem Blick und ſiche¬
rer Berechnung zirkelt er die Bogenfahrt ab, ſo daß er pfeilſchnellen
Fluges dicht am ſchauerlichen Abgrunde mit ſeiner Laſt vorüber¬
ſtürmt; — nur wenig Fuß Fehlberechnung in der Curve, würde
ihn hinabſchleudern in Untiefen, aus denen es keine Rückkehr giebt.

„Dem Muthigen hilft Gott“ und „Kein Muthiger erbleicht
vor kühner That!“ Dieſe Worte Schillers finden volle Anwen¬
dung auf alle Wildheuer, namentlich aber auch auf jenen tollküh¬
nen Molliſer (Kanton Glarus), der einſt von den Heubergen unterm
Frohnalpſtock bei ſeiner Fahrt zu Thal den allerdirekteſten und
ſchnurgeradeſten Weg über die treppenförmig ſich abtiefenden Fluh¬
ätze nahm. Sichere Zeichen verkündeten ihm, als er droben ge¬
laden hatte, daß Lauinenſtürze zu befürchten ſtänden. Mehrere Stel¬
len ſeines gewöhnlichen Weges lagen in den Schreckensbahnen
dieſer Donnergrüße des Winters; ihm drohte der entſetzliche Tod:
verſchüttet zu werden. Jede Minute Zögerung vergrößerte die Ge¬
fahr. Da entſchloß er ſich kurz, befahl dem Himmel ſeine Seele
und wählte unter zwei Schreckniſſen das kleinere. Wer das Ter¬
rain kennt, hält ſolch ein Unternehmen für Wahnwitz; denn es iſt
weitaus mehr Wahrſcheinlichkeit, daß der Wagehals dabei um¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0425" n="383"/>
        <fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Wildheuer</hi>.<lb/></fw>
        <p>Nicht alles Heu, welches im Winter ab den Bergen ge&#x017F;chlittet<lb/>
wird, i&#x017F;t nur Wildheu; es giebt auch Bergwie&#x017F;en, die eben&#x017F;o be¬<lb/>
wirth&#x017F;chaftet werden wie die im Thale liegenden fetten oder &#x201E;Mahd-<lb/>
Wie&#x017F;en.&#x201C; Liegen die&#x017F;e nun zu entfernt vom Dorfe oder des<lb/>
Eigenthümers &#x201E;Heimet&#x201C;, dann wird der Ernte-Ertrag der&#x017F;elben,<lb/>
eben&#x017F;o wie das Wildheu in Gäden aufge&#x017F;peichert, und entweder<lb/>
an Ort und Stelle im Winter gefüttert, oder in angegebener Wei&#x017F;e<lb/>
zu Thal ge&#x017F;chlittet. &#x2014; Die Verwegenheit und das Ge&#x017F;chick, mit<lb/>
denen der Heu&#x017F;chlitter &#x017F;eine, ihn hoch überragende, mehrere Zentner<lb/>
wuchtige Ladung dirigirt, i&#x017F;t bewundernswürdig. Völlig vertraut<lb/>
mit den Gefahren, welche ihn bedrohen, kennt er die (jetzt mit<lb/>
Schnee ausgefüllten) Schluchten, durch welche &#x017F;eine Eisbahn läuft,<lb/>
bis in die klein&#x017F;te Einzelnheit genau; mit &#x017F;charfem Blick und &#x017F;iche¬<lb/>
rer Berechnung zirkelt er die Bogenfahrt ab, &#x017F;o daß er pfeil&#x017F;chnellen<lb/>
Fluges dicht am &#x017F;chauerlichen Abgrunde mit &#x017F;einer La&#x017F;t vorüber¬<lb/>
&#x017F;türmt; &#x2014; nur wenig Fuß Fehlberechnung in der Curve, würde<lb/>
ihn hinab&#x017F;chleudern in Untiefen, aus denen es keine Rückkehr giebt.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Dem Muthigen hilft Gott&#x201C; und &#x201E;Kein Muthiger erbleicht<lb/>
vor kühner That!&#x201C; Die&#x017F;e Worte Schillers finden volle Anwen¬<lb/>
dung auf alle Wildheuer, namentlich aber auch auf jenen tollküh¬<lb/>
nen Molli&#x017F;er (Kanton Glarus), der ein&#x017F;t von den Heubergen unterm<lb/>
Frohnalp&#x017F;tock bei &#x017F;einer Fahrt zu Thal den allerdirekte&#x017F;ten und<lb/>
&#x017F;chnurgerade&#x017F;ten Weg über die treppenförmig &#x017F;ich abtiefenden Fluh¬<lb/>
ätze nahm. Sichere Zeichen verkündeten ihm, als er droben ge¬<lb/>
laden hatte, daß Lauinen&#x017F;türze zu befürchten &#x017F;tänden. Mehrere Stel¬<lb/>
len &#x017F;eines gewöhnlichen Weges lagen in den Schreckensbahnen<lb/>
die&#x017F;er Donnergrüße des Winters; ihm drohte der ent&#x017F;etzliche Tod:<lb/>
ver&#x017F;chüttet zu werden. Jede Minute Zögerung vergrößerte die Ge¬<lb/>
fahr. Da ent&#x017F;chloß er &#x017F;ich kurz, befahl dem Himmel &#x017F;eine Seele<lb/>
und wählte unter zwei Schreckni&#x017F;&#x017F;en das kleinere. Wer das Ter¬<lb/>
rain kennt, hält &#x017F;olch ein Unternehmen für Wahnwitz; denn es i&#x017F;t<lb/>
weitaus mehr Wahr&#x017F;cheinlichkeit, daß der Wagehals dabei um¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[383/0425] Der Wildheuer. Nicht alles Heu, welches im Winter ab den Bergen geſchlittet wird, iſt nur Wildheu; es giebt auch Bergwieſen, die ebenſo be¬ wirthſchaftet werden wie die im Thale liegenden fetten oder „Mahd- Wieſen.“ Liegen dieſe nun zu entfernt vom Dorfe oder des Eigenthümers „Heimet“, dann wird der Ernte-Ertrag derſelben, ebenſo wie das Wildheu in Gäden aufgeſpeichert, und entweder an Ort und Stelle im Winter gefüttert, oder in angegebener Weiſe zu Thal geſchlittet. — Die Verwegenheit und das Geſchick, mit denen der Heuſchlitter ſeine, ihn hoch überragende, mehrere Zentner wuchtige Ladung dirigirt, iſt bewundernswürdig. Völlig vertraut mit den Gefahren, welche ihn bedrohen, kennt er die (jetzt mit Schnee ausgefüllten) Schluchten, durch welche ſeine Eisbahn läuft, bis in die kleinſte Einzelnheit genau; mit ſcharfem Blick und ſiche¬ rer Berechnung zirkelt er die Bogenfahrt ab, ſo daß er pfeilſchnellen Fluges dicht am ſchauerlichen Abgrunde mit ſeiner Laſt vorüber¬ ſtürmt; — nur wenig Fuß Fehlberechnung in der Curve, würde ihn hinabſchleudern in Untiefen, aus denen es keine Rückkehr giebt. „Dem Muthigen hilft Gott“ und „Kein Muthiger erbleicht vor kühner That!“ Dieſe Worte Schillers finden volle Anwen¬ dung auf alle Wildheuer, namentlich aber auch auf jenen tollküh¬ nen Molliſer (Kanton Glarus), der einſt von den Heubergen unterm Frohnalpſtock bei ſeiner Fahrt zu Thal den allerdirekteſten und ſchnurgeradeſten Weg über die treppenförmig ſich abtiefenden Fluh¬ ätze nahm. Sichere Zeichen verkündeten ihm, als er droben ge¬ laden hatte, daß Lauinenſtürze zu befürchten ſtänden. Mehrere Stel¬ len ſeines gewöhnlichen Weges lagen in den Schreckensbahnen dieſer Donnergrüße des Winters; ihm drohte der entſetzliche Tod: verſchüttet zu werden. Jede Minute Zögerung vergrößerte die Ge¬ fahr. Da entſchloß er ſich kurz, befahl dem Himmel ſeine Seele und wählte unter zwei Schreckniſſen das kleinere. Wer das Ter¬ rain kennt, hält ſolch ein Unternehmen für Wahnwitz; denn es iſt weitaus mehr Wahrſcheinlichkeit, daß der Wagehals dabei um¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/425
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/425>, abgerufen am 16.07.2024.