selben in ihren inneren Verhältnissen und Beziehungen eigentlich kennen gelernt zu haben; er konstruirt sich unter Zuhilfenahme des Vorhandenen ein ideales Alpendorf aus den Phantasien, welche in glücklichen Stunden ihn umranken, und schafft dadurch ein Ding, welches in Wirklichkeit nicht existirt.
Der Alpenbauer, wie wir ihn bereits in einzelnen Umrissen kennen lernten, ist allenthalben, diesseit und jenseit des Gebirges, ein ungemein derber, höchst prosaischer Mensch, der sich beim ersten Anblick (vielleicht Tracht und Haltung ausgenommen) wenig vom Bauer des Flachlandes unterscheiden würde, wenn hinter seiner Nüchternheit und in seiner Prosa nicht ein weit kernigeres Naturell, eine gewisse urwüchsige Originalität, man möchte fast sagen ein klassischer Ernst steckte. Er ist bei Weitem nicht so dressirt und gehobelt wie ein großer Theil der agrikolen Bauern, die durch ihre fortwährende Beziehung zum Stadtleben viel von diesem ge¬ lernt und aufgenommen haben; aber eben darum ist er auch wahrer, ursprünglicher und trägt weniger fremdes Wesen in sich als jener. Es ist die Eigenthümlichkeit, die bei jedem Gebirgsvolke, gegen¬ über dem Flachlandsbewohner, heraustritt; das patriarchalische Moment, getragen und gehoben durch die kräftigere, präcisere Aus¬ drucksweise, die wiederum ein Resultat der Einwirkungen jener imposanten, oft furchtbar-erhabenen Natur sind. Sie stählt und kräftigt nicht nur den Körper, sondern auch den Charakter des Volkes, das unbekannt mit den, im Sturme sich häufenden, täglich neuen Bedürfnissen der großen Welt, genügsam in seinen Lebens- Ansprüchen ist, und in einer Altherkömmlichkeit der Sitten und Gebräuche verharrt, die, eben ihrer uns fremd gewordenen Alter¬ thümlichkeit halber, uns auffallen und anheimeln.
Diesen ungekünstelten, naturgemäßen Lebensformen begegnen wir zunächst und am Unmittelbarsten an dem uns fremden Habitus der Häuser. Sie sind ein integrirender Theil der uns entzückenden Landschaft und beleben dieselbe durch ihre, weit über die Matten
Dorfleben im Gebirge.
ſelben in ihren inneren Verhältniſſen und Beziehungen eigentlich kennen gelernt zu haben; er konſtruirt ſich unter Zuhilfenahme des Vorhandenen ein ideales Alpendorf aus den Phantaſien, welche in glücklichen Stunden ihn umranken, und ſchafft dadurch ein Ding, welches in Wirklichkeit nicht exiſtirt.
Der Alpenbauer, wie wir ihn bereits in einzelnen Umriſſen kennen lernten, iſt allenthalben, dieſſeit und jenſeit des Gebirges, ein ungemein derber, höchſt proſaiſcher Menſch, der ſich beim erſten Anblick (vielleicht Tracht und Haltung ausgenommen) wenig vom Bauer des Flachlandes unterſcheiden würde, wenn hinter ſeiner Nüchternheit und in ſeiner Proſa nicht ein weit kernigeres Naturell, eine gewiſſe urwüchſige Originalität, man möchte faſt ſagen ein klaſſiſcher Ernſt ſteckte. Er iſt bei Weitem nicht ſo dreſſirt und gehobelt wie ein großer Theil der agrikolen Bauern, die durch ihre fortwährende Beziehung zum Stadtleben viel von dieſem ge¬ lernt und aufgenommen haben; aber eben darum iſt er auch wahrer, urſprünglicher und trägt weniger fremdes Weſen in ſich als jener. Es iſt die Eigenthümlichkeit, die bei jedem Gebirgsvolke, gegen¬ über dem Flachlandsbewohner, heraustritt; das patriarchaliſche Moment, getragen und gehoben durch die kräftigere, präciſere Aus¬ drucksweiſe, die wiederum ein Reſultat der Einwirkungen jener impoſanten, oft furchtbar-erhabenen Natur ſind. Sie ſtählt und kräftigt nicht nur den Körper, ſondern auch den Charakter des Volkes, das unbekannt mit den, im Sturme ſich häufenden, täglich neuen Bedürfniſſen der großen Welt, genügſam in ſeinen Lebens- Anſprüchen iſt, und in einer Altherkömmlichkeit der Sitten und Gebräuche verharrt, die, eben ihrer uns fremd gewordenen Alter¬ thümlichkeit halber, uns auffallen und anheimeln.
Dieſen ungekünſtelten, naturgemäßen Lebensformen begegnen wir zunächſt und am Unmittelbarſten an dem uns fremden Habitus der Häuſer. Sie ſind ein integrirender Theil der uns entzückenden Landſchaft und beleben dieſelbe durch ihre, weit über die Matten
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0476"n="426"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#fr #g">Dorfleben im Gebirge</hi>.<lb/></fw>ſelben in ihren inneren Verhältniſſen und Beziehungen eigentlich<lb/>
kennen gelernt zu haben; er konſtruirt ſich unter Zuhilfenahme des<lb/>
Vorhandenen ein ideales Alpendorf aus den Phantaſien, welche in<lb/>
glücklichen Stunden ihn umranken, und ſchafft dadurch ein Ding,<lb/>
welches in Wirklichkeit nicht exiſtirt.</p><lb/><p>Der Alpenbauer, wie wir ihn bereits in einzelnen Umriſſen<lb/>
kennen lernten, iſt allenthalben, dieſſeit und jenſeit des Gebirges,<lb/>
ein ungemein derber, höchſt proſaiſcher Menſch, der ſich beim erſten<lb/>
Anblick (vielleicht Tracht und Haltung ausgenommen) wenig vom<lb/>
Bauer des Flachlandes unterſcheiden würde, wenn hinter ſeiner<lb/>
Nüchternheit und in ſeiner Proſa nicht ein weit kernigeres Naturell,<lb/>
eine gewiſſe urwüchſige Originalität, man möchte faſt ſagen ein<lb/>
klaſſiſcher Ernſt ſteckte. Er iſt bei Weitem nicht ſo dreſſirt und<lb/>
gehobelt wie ein großer Theil der agrikolen Bauern, die durch<lb/>
ihre fortwährende Beziehung zum Stadtleben viel von dieſem ge¬<lb/>
lernt und aufgenommen haben; aber eben darum iſt er auch wahrer,<lb/>
urſprünglicher und trägt weniger fremdes Weſen in ſich als jener.<lb/>
Es iſt die Eigenthümlichkeit, die bei jedem Gebirgsvolke, gegen¬<lb/>
über dem Flachlandsbewohner, heraustritt; das patriarchaliſche<lb/>
Moment, getragen und gehoben durch die kräftigere, präciſere Aus¬<lb/>
drucksweiſe, die wiederum ein Reſultat der Einwirkungen jener<lb/>
impoſanten, oft furchtbar-erhabenen Natur ſind. Sie ſtählt und<lb/>
kräftigt nicht nur den Körper, ſondern auch den Charakter des<lb/>
Volkes, das unbekannt mit den, im Sturme ſich häufenden, täglich<lb/>
neuen Bedürfniſſen der großen Welt, genügſam in ſeinen Lebens-<lb/>
Anſprüchen iſt, und in einer Altherkömmlichkeit der Sitten und<lb/>
Gebräuche verharrt, die, eben ihrer uns fremd gewordenen Alter¬<lb/>
thümlichkeit halber, uns auffallen und anheimeln.</p><lb/><p>Dieſen ungekünſtelten, naturgemäßen Lebensformen begegnen<lb/>
wir zunächſt und am Unmittelbarſten an dem uns fremden Habitus<lb/>
der Häuſer. Sie ſind ein integrirender Theil der uns entzückenden<lb/>
Landſchaft und beleben dieſelbe durch ihre, weit über die Matten<lb/></p></div></body></text></TEI>
[426/0476]
Dorfleben im Gebirge.
ſelben in ihren inneren Verhältniſſen und Beziehungen eigentlich
kennen gelernt zu haben; er konſtruirt ſich unter Zuhilfenahme des
Vorhandenen ein ideales Alpendorf aus den Phantaſien, welche in
glücklichen Stunden ihn umranken, und ſchafft dadurch ein Ding,
welches in Wirklichkeit nicht exiſtirt.
Der Alpenbauer, wie wir ihn bereits in einzelnen Umriſſen
kennen lernten, iſt allenthalben, dieſſeit und jenſeit des Gebirges,
ein ungemein derber, höchſt proſaiſcher Menſch, der ſich beim erſten
Anblick (vielleicht Tracht und Haltung ausgenommen) wenig vom
Bauer des Flachlandes unterſcheiden würde, wenn hinter ſeiner
Nüchternheit und in ſeiner Proſa nicht ein weit kernigeres Naturell,
eine gewiſſe urwüchſige Originalität, man möchte faſt ſagen ein
klaſſiſcher Ernſt ſteckte. Er iſt bei Weitem nicht ſo dreſſirt und
gehobelt wie ein großer Theil der agrikolen Bauern, die durch
ihre fortwährende Beziehung zum Stadtleben viel von dieſem ge¬
lernt und aufgenommen haben; aber eben darum iſt er auch wahrer,
urſprünglicher und trägt weniger fremdes Weſen in ſich als jener.
Es iſt die Eigenthümlichkeit, die bei jedem Gebirgsvolke, gegen¬
über dem Flachlandsbewohner, heraustritt; das patriarchaliſche
Moment, getragen und gehoben durch die kräftigere, präciſere Aus¬
drucksweiſe, die wiederum ein Reſultat der Einwirkungen jener
impoſanten, oft furchtbar-erhabenen Natur ſind. Sie ſtählt und
kräftigt nicht nur den Körper, ſondern auch den Charakter des
Volkes, das unbekannt mit den, im Sturme ſich häufenden, täglich
neuen Bedürfniſſen der großen Welt, genügſam in ſeinen Lebens-
Anſprüchen iſt, und in einer Altherkömmlichkeit der Sitten und
Gebräuche verharrt, die, eben ihrer uns fremd gewordenen Alter¬
thümlichkeit halber, uns auffallen und anheimeln.
Dieſen ungekünſtelten, naturgemäßen Lebensformen begegnen
wir zunächſt und am Unmittelbarſten an dem uns fremden Habitus
der Häuſer. Sie ſind ein integrirender Theil der uns entzückenden
Landſchaft und beleben dieſelbe durch ihre, weit über die Matten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/476>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.