Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Dorfleben im Gebirge.
Lehrer und Schüler. Was von den Gehirn-Nerven während des
Winters dürftig aufgesogen und von den zugespitzten Fingern tech¬
nisch erlernt wurde, hilft das freie, ungebundene Sommerleben
innerhalb der Berge und an den Kräuter-duftenden Halden glücklich
wieder verschwitzen: nur einige Zahlenreste für die Haus- und
Markt-Arithmetik, etwas Lesefertigkeit und die oft schwer entziffer¬
baren Hieroglyphen der Namens-Unterschrift, sind in sehr vielen
Fällen die ganzen für die Zukunft eroberten Schätze der Schul¬
weisheit. Und unter welchen erschwerenden Umständen werden
diese geringen Fertigkeiten gewonnen? -- Der Lehrer, -- armer
Mann! -- er steht, was sein Honorar betrifft, gewöhnlich mit dem
Hirten auf gleicher Höhe des Einkommens, -- nicht selten im Ge¬
halt noch unter diesem; er ist ein wandernder Scholarch, der sehen
mag, wo ihm die Vorsehung zur Sommerszeit ein anderes Brod
bescheert, -- der, wenn er selbst ein kleines Häuschen und etwas
Land nebst einigen Stücken Vieh besitzt, die unterrichtsfreie Zeit
mit Land- und Hand-Arbeit ausfüllt. In mehr als hundert
Dörfern giebts gar kein Schulhaus; ein kleines Zimmer in des
Pfarrers Wohnung oder beim Kaplan, wo kaum die Hälfte der
Kinder Raum zum Sitzen findet, muß dessen Stelle vertreten.
Der Schulmeister hat dann ein Schlafkämmerlein im gleichen
Hause oder wo es sonst Platz für ihn giebt, und hospitirt heute
hier, morgen dort am Mittagstisch der Bauern. Die Kinder aber
kommen oft eine Stunde weit in Schnee und wildem Wetter zur
Schule.

Tritt nun der Knabe ins Leben ein, so hängt, wie überall,
seine Zukunft von der Eltern Besitz, von der Zahl seiner Ge¬
schwister und hundert anderen Umständen ab. Gar mancher arme
Bube, der einst die Ziegen hütete und wenig mehr als seine Klei¬
dung sein Eigenthum nannte, gelangte dennoch zu Reichthum und
Gütern. Da sind vor allen die Graubündner ein wunderbar spe¬
kulatives Volk. Das große, schwach bevölkerte Land sendet alljähr¬

Dorfleben im Gebirge.
Lehrer und Schüler. Was von den Gehirn-Nerven während des
Winters dürftig aufgeſogen und von den zugeſpitzten Fingern tech¬
niſch erlernt wurde, hilft das freie, ungebundene Sommerleben
innerhalb der Berge und an den Kräuter-duftenden Halden glücklich
wieder verſchwitzen: nur einige Zahlenreſte für die Haus- und
Markt-Arithmetik, etwas Leſefertigkeit und die oft ſchwer entziffer¬
baren Hieroglyphen der Namens-Unterſchrift, ſind in ſehr vielen
Fällen die ganzen für die Zukunft eroberten Schätze der Schul¬
weisheit. Und unter welchen erſchwerenden Umſtänden werden
dieſe geringen Fertigkeiten gewonnen? — Der Lehrer, — armer
Mann! — er ſteht, was ſein Honorar betrifft, gewöhnlich mit dem
Hirten auf gleicher Höhe des Einkommens, — nicht ſelten im Ge¬
halt noch unter dieſem; er iſt ein wandernder Scholarch, der ſehen
mag, wo ihm die Vorſehung zur Sommerszeit ein anderes Brod
beſcheert, — der, wenn er ſelbſt ein kleines Häuschen und etwas
Land nebſt einigen Stücken Vieh beſitzt, die unterrichtsfreie Zeit
mit Land- und Hand-Arbeit ausfüllt. In mehr als hundert
Dörfern giebts gar kein Schulhaus; ein kleines Zimmer in des
Pfarrers Wohnung oder beim Kaplan, wo kaum die Hälfte der
Kinder Raum zum Sitzen findet, muß deſſen Stelle vertreten.
Der Schulmeiſter hat dann ein Schlafkämmerlein im gleichen
Hauſe oder wo es ſonſt Platz für ihn giebt, und hoſpitirt heute
hier, morgen dort am Mittagstiſch der Bauern. Die Kinder aber
kommen oft eine Stunde weit in Schnee und wildem Wetter zur
Schule.

Tritt nun der Knabe ins Leben ein, ſo hängt, wie überall,
ſeine Zukunft von der Eltern Beſitz, von der Zahl ſeiner Ge¬
ſchwiſter und hundert anderen Umſtänden ab. Gar mancher arme
Bube, der einſt die Ziegen hütete und wenig mehr als ſeine Klei¬
dung ſein Eigenthum nannte, gelangte dennoch zu Reichthum und
Gütern. Da ſind vor allen die Graubündner ein wunderbar ſpe¬
kulatives Volk. Das große, ſchwach bevölkerte Land ſendet alljähr¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0481" n="431"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Dorfleben im Gebirge</hi>.<lb/></fw> Lehrer und Schüler. Was von den Gehirn-Nerven während des<lb/>
Winters dürftig aufge&#x017F;ogen und von den zuge&#x017F;pitzten Fingern tech¬<lb/>
ni&#x017F;ch erlernt wurde, hilft das freie, ungebundene Sommerleben<lb/>
innerhalb der Berge und an den Kräuter-duftenden Halden glücklich<lb/>
wieder ver&#x017F;chwitzen: nur einige Zahlenre&#x017F;te für die Haus- und<lb/>
Markt-Arithmetik, etwas Le&#x017F;efertigkeit und die oft &#x017F;chwer entziffer¬<lb/>
baren Hieroglyphen der Namens-Unter&#x017F;chrift, &#x017F;ind in &#x017F;ehr vielen<lb/>
Fällen die ganzen für die Zukunft eroberten Schätze der Schul¬<lb/>
weisheit. Und unter welchen er&#x017F;chwerenden Um&#x017F;tänden werden<lb/>
die&#x017F;e geringen Fertigkeiten gewonnen? &#x2014; Der Lehrer, &#x2014; armer<lb/>
Mann! &#x2014; er &#x017F;teht, was &#x017F;ein Honorar betrifft, gewöhnlich mit dem<lb/>
Hirten auf gleicher Höhe des Einkommens, &#x2014; nicht &#x017F;elten im Ge¬<lb/>
halt noch unter die&#x017F;em; er i&#x017F;t ein wandernder Scholarch, der &#x017F;ehen<lb/>
mag, wo ihm die Vor&#x017F;ehung zur Sommerszeit ein anderes Brod<lb/>
be&#x017F;cheert, &#x2014; der, wenn er &#x017F;elb&#x017F;t ein kleines Häuschen und etwas<lb/>
Land neb&#x017F;t einigen Stücken Vieh be&#x017F;itzt, die unterrichtsfreie Zeit<lb/>
mit Land- und Hand-Arbeit ausfüllt. In mehr als hundert<lb/>
Dörfern giebts gar kein Schulhaus; ein kleines Zimmer in des<lb/>
Pfarrers Wohnung oder beim Kaplan, wo kaum die Hälfte der<lb/>
Kinder Raum zum Sitzen findet, muß de&#x017F;&#x017F;en Stelle vertreten.<lb/>
Der Schulmei&#x017F;ter hat dann ein Schlafkämmerlein im gleichen<lb/>
Hau&#x017F;e oder wo es &#x017F;on&#x017F;t Platz für ihn giebt, und ho&#x017F;pitirt heute<lb/>
hier, morgen dort am Mittagsti&#x017F;ch der Bauern. Die Kinder aber<lb/>
kommen oft eine Stunde weit in Schnee und wildem Wetter zur<lb/>
Schule.</p><lb/>
        <p>Tritt nun der Knabe ins Leben ein, &#x017F;o hängt, wie überall,<lb/>
&#x017F;eine Zukunft von der Eltern Be&#x017F;itz, von der Zahl &#x017F;einer Ge¬<lb/>
&#x017F;chwi&#x017F;ter und hundert anderen Um&#x017F;tänden ab. Gar mancher arme<lb/>
Bube, der ein&#x017F;t die Ziegen hütete und wenig mehr als &#x017F;eine Klei¬<lb/>
dung &#x017F;ein Eigenthum nannte, gelangte dennoch zu Reichthum und<lb/>
Gütern. Da &#x017F;ind vor allen die Graubündner ein wunderbar &#x017F;pe¬<lb/>
kulatives Volk. Das große, &#x017F;chwach bevölkerte Land &#x017F;endet alljähr¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[431/0481] Dorfleben im Gebirge. Lehrer und Schüler. Was von den Gehirn-Nerven während des Winters dürftig aufgeſogen und von den zugeſpitzten Fingern tech¬ niſch erlernt wurde, hilft das freie, ungebundene Sommerleben innerhalb der Berge und an den Kräuter-duftenden Halden glücklich wieder verſchwitzen: nur einige Zahlenreſte für die Haus- und Markt-Arithmetik, etwas Leſefertigkeit und die oft ſchwer entziffer¬ baren Hieroglyphen der Namens-Unterſchrift, ſind in ſehr vielen Fällen die ganzen für die Zukunft eroberten Schätze der Schul¬ weisheit. Und unter welchen erſchwerenden Umſtänden werden dieſe geringen Fertigkeiten gewonnen? — Der Lehrer, — armer Mann! — er ſteht, was ſein Honorar betrifft, gewöhnlich mit dem Hirten auf gleicher Höhe des Einkommens, — nicht ſelten im Ge¬ halt noch unter dieſem; er iſt ein wandernder Scholarch, der ſehen mag, wo ihm die Vorſehung zur Sommerszeit ein anderes Brod beſcheert, — der, wenn er ſelbſt ein kleines Häuschen und etwas Land nebſt einigen Stücken Vieh beſitzt, die unterrichtsfreie Zeit mit Land- und Hand-Arbeit ausfüllt. In mehr als hundert Dörfern giebts gar kein Schulhaus; ein kleines Zimmer in des Pfarrers Wohnung oder beim Kaplan, wo kaum die Hälfte der Kinder Raum zum Sitzen findet, muß deſſen Stelle vertreten. Der Schulmeiſter hat dann ein Schlafkämmerlein im gleichen Hauſe oder wo es ſonſt Platz für ihn giebt, und hoſpitirt heute hier, morgen dort am Mittagstiſch der Bauern. Die Kinder aber kommen oft eine Stunde weit in Schnee und wildem Wetter zur Schule. Tritt nun der Knabe ins Leben ein, ſo hängt, wie überall, ſeine Zukunft von der Eltern Beſitz, von der Zahl ſeiner Ge¬ ſchwiſter und hundert anderen Umſtänden ab. Gar mancher arme Bube, der einſt die Ziegen hütete und wenig mehr als ſeine Klei¬ dung ſein Eigenthum nannte, gelangte dennoch zu Reichthum und Gütern. Da ſind vor allen die Graubündner ein wunderbar ſpe¬ kulatives Volk. Das große, ſchwach bevölkerte Land ſendet alljähr¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/481
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/481>, abgerufen am 21.11.2024.