Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Dorfleben im Gebirge. sträußen überschwänglich ausstaffirt an einem Herbstsonntage in dieKirche und nimmt daselbst die Ehrenplätze des Tages auf den vordersten Bänken ein. Nachdem das Standbild ihres Schutzpa¬ trons, des heiligen Wendelinus, auf dem Altare ausgestellt ist, hält der Ortsgeistliche eine Predigt zum Lobe des Hirtenstandes, und der übrige Theil des Gottesdienstes verläuft nach dem Ritual. Nun aber, wenn die Kirche zu Ende ist, beginnt draußen vor den Thüren ein jubelvolles Leben. Die Musiker schmettern ihre Fan¬ faren lustig hinaus, hoch weht die Aelpler-Fahne, und der heilige Wendelinus wird in jauchzender Prozession, begleitet vom Pfarrer, durchs Dorf getragen. Als Wildmann und Wildweib verkleidete Burschen, ganz in grünes Tannenreis gehüllt, mit Bärten von der langen Rag-Flechte (Usnea barbata) treiben Tollheit über Tollheit, indessen kunstgeübte Fahnenschwenker sich produziren. So geht der Zug zum Wirthshause, wo die Begeisterung aufs Höchste steigt und mit einem schönen Akt der Humanität in der Weise geschlossen wird, daß der Bratenmeister den Aermsten der Gemeinde den mit Blumen geschmückten Kirchweihbraten und eine große Kanne Wein zum Besten giebt. Am andern Morgen dann, wenn Alle ausge¬ schlafen haben, beginnt, nach abermaligem Gottesdienst, der Tanz, der lärmend und tobend so lange fortgesetzt wird, als sich nur noch ein Bein regen kann. -- Noch toller treibens die Appenzeller auf ihrer Kilbene zu Urnäsch; dort geht es Tag und Nacht in Saus und Braus. Und was gilt dann als die größte Ehre für ein Mädchen, das vom Kirchweihfeste kommt? Was glaubt man wohl? Blitzblaue und blutig gestoßene Ellenbogen! das ist ein Zeichen, daß sie brav Tänzer hatte, und keine Allemande auszu¬ lassen brauchte. Der Saal, in welchem getanzt wird, ist für die Menschenmenge nämlich so klein, daß bei dem ungestümen Drehen die entblößten Ellenbogen allenthalben anstoßen, und daher die blutigen Siegesmaale. -- Im Graubündner Vorderrheinthal findet ein solches Tanzfest zur Fastnachtszeit statt, welches drei Tage und 28*
Dorfleben im Gebirge. ſträußen überſchwänglich ausſtaffirt an einem Herbſtſonntage in dieKirche und nimmt daſelbſt die Ehrenplätze des Tages auf den vorderſten Bänken ein. Nachdem das Standbild ihres Schutzpa¬ trons, des heiligen Wendelinus, auf dem Altare ausgeſtellt iſt, hält der Ortsgeiſtliche eine Predigt zum Lobe des Hirtenſtandes, und der übrige Theil des Gottesdienſtes verläuft nach dem Ritual. Nun aber, wenn die Kirche zu Ende iſt, beginnt draußen vor den Thüren ein jubelvolles Leben. Die Muſiker ſchmettern ihre Fan¬ faren luſtig hinaus, hoch weht die Aelpler-Fahne, und der heilige Wendelinus wird in jauchzender Prozeſſion, begleitet vom Pfarrer, durchs Dorf getragen. Als Wildmann und Wildweib verkleidete Burſchen, ganz in grünes Tannenreis gehüllt, mit Bärten von der langen Rag-Flechte (Usnea barbata) treiben Tollheit über Tollheit, indeſſen kunſtgeübte Fahnenſchwenker ſich produziren. So geht der Zug zum Wirthshauſe, wo die Begeiſterung aufs Höchſte ſteigt und mit einem ſchönen Akt der Humanität in der Weiſe geſchloſſen wird, daß der Bratenmeiſter den Aermſten der Gemeinde den mit Blumen geſchmückten Kirchweihbraten und eine große Kanne Wein zum Beſten giebt. Am andern Morgen dann, wenn Alle ausge¬ ſchlafen haben, beginnt, nach abermaligem Gottesdienſt, der Tanz, der lärmend und tobend ſo lange fortgeſetzt wird, als ſich nur noch ein Bein regen kann. — Noch toller treibens die Appenzeller auf ihrer Kilbene zu Urnäſch; dort geht es Tag und Nacht in Saus und Braus. Und was gilt dann als die größte Ehre für ein Mädchen, das vom Kirchweihfeſte kommt? Was glaubt man wohl? Blitzblaue und blutig geſtoßene Ellenbogen! das iſt ein Zeichen, daß ſie brav Tänzer hatte, und keine Allemande auszu¬ laſſen brauchte. Der Saal, in welchem getanzt wird, iſt für die Menſchenmenge nämlich ſo klein, daß bei dem ungeſtümen Drehen die entblößten Ellenbogen allenthalben anſtoßen, und daher die blutigen Siegesmaale. — Im Graubündner Vorderrheinthal findet ein ſolches Tanzfeſt zur Faſtnachtszeit ſtatt, welches drei Tage und 28*
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Dorfleben im Gebirge.
ſträußen überſchwänglich ausſtaffirt an einem Herbſtſonntage in die
Kirche und nimmt daſelbſt die Ehrenplätze des Tages auf den
vorderſten Bänken ein. Nachdem das Standbild ihres Schutzpa¬
trons, des heiligen Wendelinus, auf dem Altare ausgeſtellt iſt, hält
der Ortsgeiſtliche eine Predigt zum Lobe des Hirtenſtandes, und
der übrige Theil des Gottesdienſtes verläuft nach dem Ritual.
Nun aber, wenn die Kirche zu Ende iſt, beginnt draußen vor den
Thüren ein jubelvolles Leben. Die Muſiker ſchmettern ihre Fan¬
faren luſtig hinaus, hoch weht die Aelpler-Fahne, und der heilige
Wendelinus wird in jauchzender Prozeſſion, begleitet vom Pfarrer,
durchs Dorf getragen. Als Wildmann und Wildweib verkleidete
Burſchen, ganz in grünes Tannenreis gehüllt, mit Bärten von der
langen Rag-Flechte (Usnea barbata) treiben Tollheit über Tollheit,
indeſſen kunſtgeübte Fahnenſchwenker ſich produziren. So geht der
Zug zum Wirthshauſe, wo die Begeiſterung aufs Höchſte ſteigt
und mit einem ſchönen Akt der Humanität in der Weiſe geſchloſſen
wird, daß der Bratenmeiſter den Aermſten der Gemeinde den mit
Blumen geſchmückten Kirchweihbraten und eine große Kanne Wein
zum Beſten giebt. Am andern Morgen dann, wenn Alle ausge¬
ſchlafen haben, beginnt, nach abermaligem Gottesdienſt, der Tanz,
der lärmend und tobend ſo lange fortgeſetzt wird, als ſich nur
noch ein Bein regen kann. — Noch toller treibens die Appenzeller
auf ihrer Kilbene zu Urnäſch; dort geht es Tag und Nacht in
Saus und Braus. Und was gilt dann als die größte Ehre für
ein Mädchen, das vom Kirchweihfeſte kommt? Was glaubt man
wohl? Blitzblaue und blutig geſtoßene Ellenbogen! das iſt ein
Zeichen, daß ſie brav Tänzer hatte, und keine Allemande auszu¬
laſſen brauchte. Der Saal, in welchem getanzt wird, iſt für die
Menſchenmenge nämlich ſo klein, daß bei dem ungeſtümen Drehen
die entblößten Ellenbogen allenthalben anſtoßen, und daher die
blutigen Siegesmaale. — Im Graubündner Vorderrheinthal findet
ein ſolches Tanzfeſt zur Faſtnachtszeit ſtatt, welches drei Tage und
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