Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Goldauer Bergsturz.
die Lava des Vulkanes alles ihr im Wege Stehende einschließt,
ausfüllt, ummauert und oft mehre Klaftern hoch überdeckt. Was
sie erreicht, wird unrettbar zerstört. Von einem solchen Schlamm¬
strome wurde im Juli 1795 ein großer Theil des reizend am
Vierwaldstätter-See gelegenen Dorfes Wäggis vernichtet und in
die Fluthen versenkt. Er kündete sich in der Nacht des 15. Juli
durch ein seltsames eintöniges Brausen an, das nach der Meinung
des Volkes aus den Kellern zu kommen schien. Als es Tag wurde,
sahen die Einwohner mit Entsetzen die dicke, dunkelrothe Schlamm¬
lauine mehre Klaftern hoch und wohl eine Viertelstunde breit,
einem Ungeheuer gleich, gegen das Dorf sich heranwälzen. Ihre
Bewegung war indessen so langsam, daß alle fahrende Habe von
den Einwohnern geflüchtet werden konnte. Volle vierzehn Tage
dauerte es, bis die wandernde Schlamm-Masse das Seegestade
erreichte; aber eine Menge Häuser und vortrefflicher Grundstücke
wurden ein Raub des Ereignisses.

Solche Schlammlauinen aber, die keinen Ausbruch finden,
werden mittelbare Ursache der Felsstürze. Die auf der Schlammlage
stark geneigt ruhenden Gesteinsschichten reißen vermöge eigener
Schwere und Wucht sich los und glitschen auf dem schmierigen
Erdreich der Tiefe zu.

Das empörte Weltmeer, der feuerspeiende Berg, die Schrecken
des amerikanischen Urwaldes, der Samum in der Wüste, sind
Erscheinungen, die das Blut in den Adern starren machen können,
-- aber kein Sturm auf offenem Ocean, wenn den Seefahrer
der Untergang aus tausend Wellengräbern angähnt, kein Ausbruch
eines seine Feuergarben himmelan strahlenden Vulkans, kein Wald¬
brand des amerikanischen Urwaldes können Entsetzen erregender
wirken, als jener schreckliche Moment, in welchem der Gebirgs¬
bewohner seinem Weibe, seinen Kindern und Nachbarn zuruft:
"Fliehet! der Berg kommt!" Nur noch ein Phänomen kommt
dem Bergsturz an seelenzersetzender Unheimlichkeit gleich: das Erd¬

Berlepsch, die Alpen. 4

Der Goldauer Bergſturz.
die Lava des Vulkanes alles ihr im Wege Stehende einſchließt,
ausfüllt, ummauert und oft mehre Klaftern hoch überdeckt. Was
ſie erreicht, wird unrettbar zerſtört. Von einem ſolchen Schlamm¬
ſtrome wurde im Juli 1795 ein großer Theil des reizend am
Vierwaldſtätter-See gelegenen Dorfes Wäggis vernichtet und in
die Fluthen verſenkt. Er kündete ſich in der Nacht des 15. Juli
durch ein ſeltſames eintöniges Brauſen an, das nach der Meinung
des Volkes aus den Kellern zu kommen ſchien. Als es Tag wurde,
ſahen die Einwohner mit Entſetzen die dicke, dunkelrothe Schlamm¬
lauine mehre Klaftern hoch und wohl eine Viertelſtunde breit,
einem Ungeheuer gleich, gegen das Dorf ſich heranwälzen. Ihre
Bewegung war indeſſen ſo langſam, daß alle fahrende Habe von
den Einwohnern geflüchtet werden konnte. Volle vierzehn Tage
dauerte es, bis die wandernde Schlamm-Maſſe das Seegeſtade
erreichte; aber eine Menge Häuſer und vortrefflicher Grundſtücke
wurden ein Raub des Ereigniſſes.

Solche Schlammlauinen aber, die keinen Ausbruch finden,
werden mittelbare Urſache der Felsſtürze. Die auf der Schlammlage
ſtark geneigt ruhenden Geſteinsſchichten reißen vermöge eigener
Schwere und Wucht ſich los und glitſchen auf dem ſchmierigen
Erdreich der Tiefe zu.

Das empörte Weltmeer, der feuerſpeiende Berg, die Schrecken
des amerikaniſchen Urwaldes, der Samum in der Wüſte, ſind
Erſcheinungen, die das Blut in den Adern ſtarren machen können,
— aber kein Sturm auf offenem Ocean, wenn den Seefahrer
der Untergang aus tauſend Wellengräbern angähnt, kein Ausbruch
eines ſeine Feuergarben himmelan ſtrahlenden Vulkans, kein Wald¬
brand des amerikaniſchen Urwaldes können Entſetzen erregender
wirken, als jener ſchreckliche Moment, in welchem der Gebirgs¬
bewohner ſeinem Weibe, ſeinen Kindern und Nachbarn zuruft:
„Fliehet! der Berg kommt!“ Nur noch ein Phänomen kommt
dem Bergſturz an ſeelenzerſetzender Unheimlichkeit gleich: das Erd¬

Berlepſch, die Alpen. 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0069" n="49"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Goldauer Berg&#x017F;turz</hi>.<lb/></fw> die Lava des Vulkanes alles ihr im Wege Stehende ein&#x017F;chließt,<lb/>
ausfüllt, ummauert und oft mehre Klaftern hoch überdeckt. Was<lb/>
&#x017F;ie erreicht, wird unrettbar zer&#x017F;tört. Von einem &#x017F;olchen Schlamm¬<lb/>
&#x017F;trome wurde im Juli 1795 ein großer Theil des reizend am<lb/>
Vierwald&#x017F;tätter-See gelegenen Dorfes Wäggis vernichtet und in<lb/>
die Fluthen ver&#x017F;enkt. Er kündete &#x017F;ich in der Nacht des 15. Juli<lb/>
durch ein &#x017F;elt&#x017F;ames eintöniges Brau&#x017F;en an, das nach der Meinung<lb/>
des Volkes aus den Kellern zu kommen &#x017F;chien. Als es Tag wurde,<lb/>
&#x017F;ahen die Einwohner mit Ent&#x017F;etzen die dicke, dunkelrothe Schlamm¬<lb/>
lauine mehre Klaftern hoch und wohl eine Viertel&#x017F;tunde breit,<lb/>
einem Ungeheuer gleich, gegen das Dorf &#x017F;ich heranwälzen. Ihre<lb/>
Bewegung war inde&#x017F;&#x017F;en &#x017F;o lang&#x017F;am, daß alle fahrende Habe von<lb/>
den Einwohnern geflüchtet werden konnte. Volle vierzehn Tage<lb/>
dauerte es, bis die wandernde Schlamm-Ma&#x017F;&#x017F;e das Seege&#x017F;tade<lb/>
erreichte; aber eine Menge Häu&#x017F;er und vortrefflicher Grund&#x017F;tücke<lb/>
wurden ein Raub des Ereigni&#x017F;&#x017F;es.</p><lb/>
        <p>Solche Schlammlauinen aber, die keinen Ausbruch finden,<lb/>
werden mittelbare Ur&#x017F;ache der Fels&#x017F;türze. Die auf der Schlammlage<lb/>
&#x017F;tark geneigt ruhenden Ge&#x017F;teins&#x017F;chichten reißen vermöge eigener<lb/>
Schwere und Wucht &#x017F;ich los und glit&#x017F;chen auf dem &#x017F;chmierigen<lb/>
Erdreich der Tiefe zu.</p><lb/>
        <p>Das empörte Weltmeer, der feuer&#x017F;peiende Berg, die Schrecken<lb/>
des amerikani&#x017F;chen Urwaldes, der Samum in der Wü&#x017F;te, &#x017F;ind<lb/>
Er&#x017F;cheinungen, die das Blut in den Adern &#x017F;tarren machen können,<lb/>
&#x2014; aber kein Sturm auf offenem Ocean, wenn den Seefahrer<lb/>
der Untergang aus tau&#x017F;end Wellengräbern angähnt, kein Ausbruch<lb/>
eines &#x017F;eine Feuergarben himmelan &#x017F;trahlenden Vulkans, kein Wald¬<lb/>
brand des amerikani&#x017F;chen Urwaldes können Ent&#x017F;etzen erregender<lb/>
wirken, als jener &#x017F;chreckliche Moment, in welchem der Gebirgs¬<lb/>
bewohner &#x017F;einem Weibe, &#x017F;einen Kindern und Nachbarn zuruft:<lb/>
&#x201E;Fliehet! der Berg kommt!&#x201C; Nur noch ein Phänomen kommt<lb/>
dem Berg&#x017F;turz an &#x017F;eelenzer&#x017F;etzender Unheimlichkeit gleich: das Erd¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Berlep&#x017F;ch</hi>, die Alpen. 4<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0069] Der Goldauer Bergſturz. die Lava des Vulkanes alles ihr im Wege Stehende einſchließt, ausfüllt, ummauert und oft mehre Klaftern hoch überdeckt. Was ſie erreicht, wird unrettbar zerſtört. Von einem ſolchen Schlamm¬ ſtrome wurde im Juli 1795 ein großer Theil des reizend am Vierwaldſtätter-See gelegenen Dorfes Wäggis vernichtet und in die Fluthen verſenkt. Er kündete ſich in der Nacht des 15. Juli durch ein ſeltſames eintöniges Brauſen an, das nach der Meinung des Volkes aus den Kellern zu kommen ſchien. Als es Tag wurde, ſahen die Einwohner mit Entſetzen die dicke, dunkelrothe Schlamm¬ lauine mehre Klaftern hoch und wohl eine Viertelſtunde breit, einem Ungeheuer gleich, gegen das Dorf ſich heranwälzen. Ihre Bewegung war indeſſen ſo langſam, daß alle fahrende Habe von den Einwohnern geflüchtet werden konnte. Volle vierzehn Tage dauerte es, bis die wandernde Schlamm-Maſſe das Seegeſtade erreichte; aber eine Menge Häuſer und vortrefflicher Grundſtücke wurden ein Raub des Ereigniſſes. Solche Schlammlauinen aber, die keinen Ausbruch finden, werden mittelbare Urſache der Felsſtürze. Die auf der Schlammlage ſtark geneigt ruhenden Geſteinsſchichten reißen vermöge eigener Schwere und Wucht ſich los und glitſchen auf dem ſchmierigen Erdreich der Tiefe zu. Das empörte Weltmeer, der feuerſpeiende Berg, die Schrecken des amerikaniſchen Urwaldes, der Samum in der Wüſte, ſind Erſcheinungen, die das Blut in den Adern ſtarren machen können, — aber kein Sturm auf offenem Ocean, wenn den Seefahrer der Untergang aus tauſend Wellengräbern angähnt, kein Ausbruch eines ſeine Feuergarben himmelan ſtrahlenden Vulkans, kein Wald¬ brand des amerikaniſchen Urwaldes können Entſetzen erregender wirken, als jener ſchreckliche Moment, in welchem der Gebirgs¬ bewohner ſeinem Weibe, ſeinen Kindern und Nachbarn zuruft: „Fliehet! der Berg kommt!“ Nur noch ein Phänomen kommt dem Bergſturz an ſeelenzerſetzender Unheimlichkeit gleich: das Erd¬ Berlepſch, die Alpen. 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/69
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/69>, abgerufen am 21.11.2024.