Busingen und Lowerz. Vierhundert und sieben und fünfzig Men¬ schen fanden ein großes gemeinsames Grab unter dem Trümmer¬ felde.
Und bei diesem schrecklichen Ereigniß, welch wunderbare Ret¬ tungsgeschichten. Fast zu alleroberst unterm Spitzenbühl wohnte damals Bläsi Mettler mit seinem blutjungen 19jährigen Weibe Agathe. Als drüben am Gemeinde-Märcht der höllische Spektakel losging, wähnte der an Hexen und Gespenster glaubende Berg¬ bauer, böse Geister trieben dort ihr Spiel. Das heulende Ge¬ schrei der Waldeulen hielt er für Jubelgesang teufelischer Dämo¬ nen, das Pfeifen und Brausen in dem Felsgeklüfte für Jammer¬ rufe verfluchter Seelen, welche ihn warnen wollten, und die donnernden Einstürze des Berges für Werke des Satans oder für Vorboten des jüngsten Gerichtes. Von Jugend auf im Aberglau¬ ben erzogen, vollgepfropft und vollgestopft mit Sagen von Schatz¬ gräbern, Kobolden und Unholden, einsam, abgeschlossen von aller menschlichen Gesellschaft lebend, schuf ihm seine rege Phantasie die abenteuerlichsten Bilder. Um nun sich, sein Weib und Kind zu sichern gegen die Angriffe des bösen Feindes, eilte er springenden Fußes hinab ins Pfarrhaus nach Arth und bat den dortigen geist¬ lichen Herrn unter Thränen und Schluchzen, mit ihm hinaufzu¬ kommen und zu benediciren, d. h. die bösen Geister zu bannen. Noch während er jammerte und erzählte, brach die Katastrophe völlig los. Mettler, ganz von Sinnen, zog seine Schuhe aus und rannte wie wahnwitzig seinem mehr als eine Stunde entfernten Hause zu. Der Zweifel, ob sein geliebtes Weib und sein vier Wochen altes Kind ein Opfer des Bergsturzes geworden seien, brachte ihn beinahe um den Verstand. Wie wars unterdessen droben gegangen? Das arme junge Weib in entsetzlichster Bangigkeit bei dem fort¬ während zunehmenden gräßlichen Getöse, bei der fast ununterbro¬ chenen Erschütterung der Hütte, verlebte während ihres Mannes Abwesenheit Stunden der unsäglichsten Angst. Da kam die Zeit
Der Goldauer Bergſturz
Buſingen und Lowerz. Vierhundert und ſieben und fünfzig Men¬ ſchen fanden ein großes gemeinſames Grab unter dem Trümmer¬ felde.
Und bei dieſem ſchrecklichen Ereigniß, welch wunderbare Ret¬ tungsgeſchichten. Faſt zu alleroberſt unterm Spitzenbühl wohnte damals Bläſi Mettler mit ſeinem blutjungen 19jährigen Weibe Agathe. Als drüben am Gemeinde-Märcht der hölliſche Spektakel losging, wähnte der an Hexen und Geſpenſter glaubende Berg¬ bauer, böſe Geiſter trieben dort ihr Spiel. Das heulende Ge¬ ſchrei der Waldeulen hielt er für Jubelgeſang teufeliſcher Dämo¬ nen, das Pfeifen und Brauſen in dem Felsgeklüfte für Jammer¬ rufe verfluchter Seelen, welche ihn warnen wollten, und die donnernden Einſtürze des Berges für Werke des Satans oder für Vorboten des jüngſten Gerichtes. Von Jugend auf im Aberglau¬ ben erzogen, vollgepfropft und vollgeſtopft mit Sagen von Schatz¬ gräbern, Kobolden und Unholden, einſam, abgeſchloſſen von aller menſchlichen Geſellſchaft lebend, ſchuf ihm ſeine rege Phantaſie die abenteuerlichſten Bilder. Um nun ſich, ſein Weib und Kind zu ſichern gegen die Angriffe des böſen Feindes, eilte er ſpringenden Fußes hinab ins Pfarrhaus nach Arth und bat den dortigen geiſt¬ lichen Herrn unter Thränen und Schluchzen, mit ihm hinaufzu¬ kommen und zu benediciren, d. h. die böſen Geiſter zu bannen. Noch während er jammerte und erzählte, brach die Kataſtrophe völlig los. Mettler, ganz von Sinnen, zog ſeine Schuhe aus und rannte wie wahnwitzig ſeinem mehr als eine Stunde entfernten Hauſe zu. Der Zweifel, ob ſein geliebtes Weib und ſein vier Wochen altes Kind ein Opfer des Bergſturzes geworden ſeien, brachte ihn beinahe um den Verſtand. Wie wars unterdeſſen droben gegangen? Das arme junge Weib in entſetzlichſter Bangigkeit bei dem fort¬ während zunehmenden gräßlichen Getöſe, bei der faſt ununterbro¬ chenen Erſchütterung der Hütte, verlebte während ihres Mannes Abweſenheit Stunden der unſäglichſten Angſt. Da kam die Zeit
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[57/0077]
Der Goldauer Bergſturz
Buſingen und Lowerz. Vierhundert und ſieben und fünfzig Men¬
ſchen fanden ein großes gemeinſames Grab unter dem Trümmer¬
felde.
Und bei dieſem ſchrecklichen Ereigniß, welch wunderbare Ret¬
tungsgeſchichten. Faſt zu alleroberſt unterm Spitzenbühl wohnte
damals Bläſi Mettler mit ſeinem blutjungen 19jährigen Weibe
Agathe. Als drüben am Gemeinde-Märcht der hölliſche Spektakel
losging, wähnte der an Hexen und Geſpenſter glaubende Berg¬
bauer, böſe Geiſter trieben dort ihr Spiel. Das heulende Ge¬
ſchrei der Waldeulen hielt er für Jubelgeſang teufeliſcher Dämo¬
nen, das Pfeifen und Brauſen in dem Felsgeklüfte für Jammer¬
rufe verfluchter Seelen, welche ihn warnen wollten, und die
donnernden Einſtürze des Berges für Werke des Satans oder für
Vorboten des jüngſten Gerichtes. Von Jugend auf im Aberglau¬
ben erzogen, vollgepfropft und vollgeſtopft mit Sagen von Schatz¬
gräbern, Kobolden und Unholden, einſam, abgeſchloſſen von aller
menſchlichen Geſellſchaft lebend, ſchuf ihm ſeine rege Phantaſie die
abenteuerlichſten Bilder. Um nun ſich, ſein Weib und Kind zu
ſichern gegen die Angriffe des böſen Feindes, eilte er ſpringenden
Fußes hinab ins Pfarrhaus nach Arth und bat den dortigen geiſt¬
lichen Herrn unter Thränen und Schluchzen, mit ihm hinaufzu¬
kommen und zu benediciren, d. h. die böſen Geiſter zu bannen.
Noch während er jammerte und erzählte, brach die Kataſtrophe
völlig los. Mettler, ganz von Sinnen, zog ſeine Schuhe aus und
rannte wie wahnwitzig ſeinem mehr als eine Stunde entfernten
Hauſe zu. Der Zweifel, ob ſein geliebtes Weib und ſein vier Wochen
altes Kind ein Opfer des Bergſturzes geworden ſeien, brachte ihn
beinahe um den Verſtand. Wie wars unterdeſſen droben gegangen?
Das arme junge Weib in entſetzlichſter Bangigkeit bei dem fort¬
während zunehmenden gräßlichen Getöſe, bei der faſt ununterbro¬
chenen Erſchütterung der Hütte, verlebte während ihres Mannes
Abweſenheit Stunden der unſäglichſten Angſt. Da kam die Zeit
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/77>, abgerufen am 21.11.2024.
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