Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Goldauer Bergsturz. Leichen seiner geliebten Angehörigen aufzufinden. Die verflosseneNacht war die qualvollste seines Lebens gewesen. Ein Bettler, obdachlos, verwaist hatte er, der kurz zuvor begüterte Mann, die Barmherzigkeit anderer Menschen für sich und seine beiden Knaben ansprechen müssen. Also mit Tagesanbruch begann er, unterstützt von Freunden, aufs Neue seine Nachsuchungen. Nach stunden¬ langem Arbeiten erblickt er endlich einen Fuß, dann Kleider. Es ist sein Weib! Mit hastiger Sorge arbeitet er, schafft, seine Riesen¬ kräfte aufs Aeußerste anstrengend, mit Leichtigkeit gewaltige Massen zur Seite und hat endlich den ganzen Körper vom Schutt befreit. Da liegt die entseelte Gattin, zerquetscht, ein Opfer ihrer Mutter¬ liebe und Muttertreue, die beiden kleinsten Kinder ans Herz ge¬ preßt. Wilder Schmerz durchrast die Seele des armen Mannes, laut heulend stürzt er nieder neben den geliebten Leichnamen und erfüllt die Luft mit seinen herzzerreißenden Klagen. Aber, o wun¬ derbare Fügung! Diese Jammerlaute dringen bis in die Gräber der beiden lebend Verschütteten. Beide rufen und schreien um Hülfe und die draußen Stehenden vernehmen es. Zuerst wird nach langem Suchen Marianneli gefunden, befreit und hervorge¬ zogen. Des Kindes Schenkelbein war zerbrochen. Dann später fand man auch die Magd. Beide wurden dem Leben zurückge¬ geben. Vierzehn volle Stunden hatten sie mit Körperleiden, Tod und Verzweiflung lebendig begraben gekämpft. Die Meisten der Verschütteten werden eines jähen, momen¬ Die Summe der damals aus den genannten Ortschaften Der Goldauer Bergſturz. Leichen ſeiner geliebten Angehörigen aufzufinden. Die verfloſſeneNacht war die qualvollſte ſeines Lebens geweſen. Ein Bettler, obdachlos, verwaiſt hatte er, der kurz zuvor begüterte Mann, die Barmherzigkeit anderer Menſchen für ſich und ſeine beiden Knaben anſprechen müſſen. Alſo mit Tagesanbruch begann er, unterſtützt von Freunden, aufs Neue ſeine Nachſuchungen. Nach ſtunden¬ langem Arbeiten erblickt er endlich einen Fuß, dann Kleider. Es iſt ſein Weib! Mit haſtiger Sorge arbeitet er, ſchafft, ſeine Rieſen¬ kräfte aufs Aeußerſte anſtrengend, mit Leichtigkeit gewaltige Maſſen zur Seite und hat endlich den ganzen Körper vom Schutt befreit. Da liegt die entſeelte Gattin, zerquetſcht, ein Opfer ihrer Mutter¬ liebe und Muttertreue, die beiden kleinſten Kinder ans Herz ge¬ preßt. Wilder Schmerz durchraſt die Seele des armen Mannes, laut heulend ſtürzt er nieder neben den geliebten Leichnamen und erfüllt die Luft mit ſeinen herzzerreißenden Klagen. Aber, o wun¬ derbare Fügung! Dieſe Jammerlaute dringen bis in die Gräber der beiden lebend Verſchütteten. Beide rufen und ſchreien um Hülfe und die draußen Stehenden vernehmen es. Zuerſt wird nach langem Suchen Marianneli gefunden, befreit und hervorge¬ zogen. Des Kindes Schenkelbein war zerbrochen. Dann ſpäter fand man auch die Magd. Beide wurden dem Leben zurückge¬ geben. Vierzehn volle Stunden hatten ſie mit Körperleiden, Tod und Verzweiflung lebendig begraben gekämpft. Die Meiſten der Verſchütteten werden eines jähen, momen¬ Die Summe der damals aus den genannten Ortſchaften <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0082" n="62"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Goldauer Bergſturz</hi>.<lb/></fw> Leichen ſeiner geliebten Angehörigen aufzufinden. Die verfloſſene<lb/> Nacht war die qualvollſte ſeines Lebens geweſen. Ein Bettler,<lb/> obdachlos, verwaiſt hatte er, der kurz zuvor begüterte Mann, die<lb/> Barmherzigkeit anderer Menſchen für ſich und ſeine beiden Knaben<lb/> anſprechen müſſen. Alſo mit Tagesanbruch begann er, unterſtützt<lb/> von Freunden, aufs Neue ſeine Nachſuchungen. Nach ſtunden¬<lb/> langem Arbeiten erblickt er endlich einen Fuß, dann Kleider. Es<lb/> iſt ſein Weib! Mit haſtiger Sorge arbeitet er, ſchafft, ſeine Rieſen¬<lb/> kräfte aufs Aeußerſte anſtrengend, mit Leichtigkeit gewaltige Maſſen<lb/> zur Seite und hat endlich den ganzen Körper vom Schutt befreit.<lb/> Da liegt die entſeelte Gattin, zerquetſcht, ein Opfer ihrer Mutter¬<lb/> liebe und Muttertreue, die beiden kleinſten Kinder ans Herz ge¬<lb/> preßt. Wilder Schmerz durchraſt die Seele des armen Mannes,<lb/> laut heulend ſtürzt er nieder neben den geliebten Leichnamen und<lb/> erfüllt die Luft mit ſeinen herzzerreißenden Klagen. Aber, o wun¬<lb/> derbare Fügung! Dieſe Jammerlaute dringen bis in die Gräber<lb/> der beiden lebend Verſchütteten. Beide rufen und ſchreien um<lb/> Hülfe und die draußen Stehenden vernehmen es. Zuerſt wird<lb/> nach langem Suchen Marianneli gefunden, befreit und hervorge¬<lb/> zogen. Des Kindes Schenkelbein war zerbrochen. Dann ſpäter<lb/> fand man auch die Magd. Beide wurden dem Leben zurückge¬<lb/> geben. Vierzehn volle Stunden hatten ſie mit Körperleiden, Tod<lb/> und Verzweiflung lebendig begraben gekämpft.</p><lb/> <p>Die Meiſten der Verſchütteten werden eines jähen, momen¬<lb/> tanen Todes geſtorben, ihr Körper zerſchmettert worden ſein. Aber<lb/> wie Viele mögen auch, ähnlich der erretteten Franziska, in der<lb/> Tiefe der Schutt- und Schlamm-Maſſen mit gebrochenen Gliedern<lb/> oder völlig unverletzt, körperlich geſund noch Tage lang geſchmach¬<lb/> tet und der Erlöſung entgegengehofft haben, um endlich in Ver¬<lb/> zweiflung dem qualvollen Hungertode zu erliegen? —</p><lb/> <p>Die Summe der damals aus den genannten Ortſchaften<lb/> mittelbar durch Hilfe oder unmittelbar durch beſonnene ſchleunige<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [62/0082]
Der Goldauer Bergſturz.
Leichen ſeiner geliebten Angehörigen aufzufinden. Die verfloſſene
Nacht war die qualvollſte ſeines Lebens geweſen. Ein Bettler,
obdachlos, verwaiſt hatte er, der kurz zuvor begüterte Mann, die
Barmherzigkeit anderer Menſchen für ſich und ſeine beiden Knaben
anſprechen müſſen. Alſo mit Tagesanbruch begann er, unterſtützt
von Freunden, aufs Neue ſeine Nachſuchungen. Nach ſtunden¬
langem Arbeiten erblickt er endlich einen Fuß, dann Kleider. Es
iſt ſein Weib! Mit haſtiger Sorge arbeitet er, ſchafft, ſeine Rieſen¬
kräfte aufs Aeußerſte anſtrengend, mit Leichtigkeit gewaltige Maſſen
zur Seite und hat endlich den ganzen Körper vom Schutt befreit.
Da liegt die entſeelte Gattin, zerquetſcht, ein Opfer ihrer Mutter¬
liebe und Muttertreue, die beiden kleinſten Kinder ans Herz ge¬
preßt. Wilder Schmerz durchraſt die Seele des armen Mannes,
laut heulend ſtürzt er nieder neben den geliebten Leichnamen und
erfüllt die Luft mit ſeinen herzzerreißenden Klagen. Aber, o wun¬
derbare Fügung! Dieſe Jammerlaute dringen bis in die Gräber
der beiden lebend Verſchütteten. Beide rufen und ſchreien um
Hülfe und die draußen Stehenden vernehmen es. Zuerſt wird
nach langem Suchen Marianneli gefunden, befreit und hervorge¬
zogen. Des Kindes Schenkelbein war zerbrochen. Dann ſpäter
fand man auch die Magd. Beide wurden dem Leben zurückge¬
geben. Vierzehn volle Stunden hatten ſie mit Körperleiden, Tod
und Verzweiflung lebendig begraben gekämpft.
Die Meiſten der Verſchütteten werden eines jähen, momen¬
tanen Todes geſtorben, ihr Körper zerſchmettert worden ſein. Aber
wie Viele mögen auch, ähnlich der erretteten Franziska, in der
Tiefe der Schutt- und Schlamm-Maſſen mit gebrochenen Gliedern
oder völlig unverletzt, körperlich geſund noch Tage lang geſchmach¬
tet und der Erlöſung entgegengehofft haben, um endlich in Ver¬
zweiflung dem qualvollen Hungertode zu erliegen? —
Die Summe der damals aus den genannten Ortſchaften
mittelbar durch Hilfe oder unmittelbar durch beſonnene ſchleunige
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