Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Goldauer Bergsturz. zen am Unterkörper und die Marter nagenden Hungers. Fran¬ziska will vor Leid vergehen, ihrem Liebling nur leere Trostesworte statt reeller Speise und Labung reichen zu können. Sie muntert dasselbe unter allerlei Vorspiegelungen (an deren Erfüllung sie selbst nicht glaubt) auf, sich zufrieden zu geben und sucht das arme leidende Wesen zu besänftigen. Die Klagen des Kindes werden immer schwächer, immer gebrochener, unartikulirter, -- end¬ lich schweigen sie ganz. -- "Gott sei Dank, es hat es überstan¬ den!" -- seufzt das treue Mädchen und bereitet sich selbst zum Abschiede vom Leben vor; denn die Leidensstunden fangen jetzt an fast unerträglich zu werden, und Todeskälte durchschauert, fieber¬ haft schüttelnd, Mark und Bein. Nach entsetzlich mühevollen, lan¬ gen, langen Versuchen gelingt es ihr endlich, die Füße aus dem umgebenden festen Schlamm etwas zu befreien, so daß sie diesel¬ ben bewegen und dadurch wieder einige Cirkulation des Blutes hervorrufen kann. Der ganze übrige Körper bleibt nach wie vor starr eingemauert. Wie entsetzlich martervoll eine solche Lage sein mag, vermögen Worte nicht auszumalen. Endlich ist eine ganze lange Nacht in diesem halbtodtähnli¬ Mit Tagesanbruch war der trostlose Gatte und Vater mit Der Goldauer Bergſturz. zen am Unterkörper und die Marter nagenden Hungers. Fran¬ziska will vor Leid vergehen, ihrem Liebling nur leere Troſtesworte ſtatt reeller Speiſe und Labung reichen zu können. Sie muntert daſſelbe unter allerlei Vorſpiegelungen (an deren Erfüllung ſie ſelbſt nicht glaubt) auf, ſich zufrieden zu geben und ſucht das arme leidende Weſen zu beſänftigen. Die Klagen des Kindes werden immer ſchwächer, immer gebrochener, unartikulirter, — end¬ lich ſchweigen ſie ganz. — „Gott ſei Dank, es hat es überſtan¬ den!“ — ſeufzt das treue Mädchen und bereitet ſich ſelbſt zum Abſchiede vom Leben vor; denn die Leidensſtunden fangen jetzt an faſt unerträglich zu werden, und Todeskälte durchſchauert, fieber¬ haft ſchüttelnd, Mark und Bein. Nach entſetzlich mühevollen, lan¬ gen, langen Verſuchen gelingt es ihr endlich, die Füße aus dem umgebenden feſten Schlamm etwas zu befreien, ſo daß ſie dieſel¬ ben bewegen und dadurch wieder einige Cirkulation des Blutes hervorrufen kann. Der ganze übrige Körper bleibt nach wie vor ſtarr eingemauert. Wie entſetzlich martervoll eine ſolche Lage ſein mag, vermögen Worte nicht auszumalen. Endlich iſt eine ganze lange Nacht in dieſem halbtodtähnli¬ Mit Tagesanbruch war der troſtloſe Gatte und Vater mit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0081" n="61"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Goldauer Bergſturz</hi>.<lb/></fw>zen am Unterkörper und die Marter nagenden Hungers. Fran¬<lb/> ziska will vor Leid vergehen, ihrem Liebling nur leere Troſtesworte<lb/> ſtatt reeller Speiſe und Labung reichen zu können. Sie muntert<lb/> daſſelbe unter allerlei Vorſpiegelungen (an deren Erfüllung ſie<lb/> ſelbſt nicht glaubt) auf, ſich zufrieden zu geben und ſucht das<lb/> arme leidende Weſen zu beſänftigen. Die Klagen des Kindes<lb/> werden immer ſchwächer, immer gebrochener, unartikulirter, — end¬<lb/> lich ſchweigen ſie ganz. — „Gott ſei Dank, es hat es überſtan¬<lb/> den!“ — ſeufzt das treue Mädchen und bereitet ſich ſelbſt zum<lb/> Abſchiede vom Leben vor; denn die Leidensſtunden fangen jetzt<lb/> an faſt unerträglich zu werden, und Todeskälte durchſchauert, fieber¬<lb/> haft ſchüttelnd, Mark und Bein. Nach entſetzlich mühevollen, lan¬<lb/> gen, langen Verſuchen gelingt es ihr endlich, die Füße aus dem<lb/> umgebenden feſten Schlamm etwas zu befreien, ſo daß ſie dieſel¬<lb/> ben bewegen und dadurch wieder einige Cirkulation des Blutes<lb/> hervorrufen kann. Der ganze übrige Körper bleibt nach wie vor<lb/> ſtarr eingemauert. Wie entſetzlich martervoll eine ſolche Lage ſein<lb/> mag, vermögen Worte nicht auszumalen.</p><lb/> <p>Endlich iſt eine ganze lange Nacht in dieſem halbtodtähnli¬<lb/> chen Zuſtande durchwacht. Die Morgenglocke am Steinerberge<lb/> und dann auch die zu Steinen ertönt; ſie läutet abermals Hoff¬<lb/> nung in das beinahe gebrochene Herz. Wiederum entſtrömen tief¬<lb/> innige Gebete ihren krampfhaft gepreßten Lippen, und wie ein<lb/> Strahl der aufgehenden Sonne dringt gewaltſam die zuverſichtliche<lb/> Ueberzeugung in ſie ein, daß ſie heute errettet werde. Da! — o<lb/> Wunder! ertönt auch wieder die Stimme des geſtorben geglaubten<lb/> Kindes! Ein krampfhafter Schlaf hatte ihm die Nacht abgekürzt.<lb/> Es klagt aufs Neue über Hunger, heftige Schmerzen und ruft der<lb/> Franziska, ihr zu helfen.</p><lb/> <p>Mit Tagesanbruch war der troſtloſe Gatte und Vater mit<lb/> ſeinen beiden Knaben wieder an die Schauerſtätte geeilt, wo er<lb/> ſchon am vorhergehenden Abend gearbeitet, um womöglich die<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [61/0081]
Der Goldauer Bergſturz.
zen am Unterkörper und die Marter nagenden Hungers. Fran¬
ziska will vor Leid vergehen, ihrem Liebling nur leere Troſtesworte
ſtatt reeller Speiſe und Labung reichen zu können. Sie muntert
daſſelbe unter allerlei Vorſpiegelungen (an deren Erfüllung ſie
ſelbſt nicht glaubt) auf, ſich zufrieden zu geben und ſucht das
arme leidende Weſen zu beſänftigen. Die Klagen des Kindes
werden immer ſchwächer, immer gebrochener, unartikulirter, — end¬
lich ſchweigen ſie ganz. — „Gott ſei Dank, es hat es überſtan¬
den!“ — ſeufzt das treue Mädchen und bereitet ſich ſelbſt zum
Abſchiede vom Leben vor; denn die Leidensſtunden fangen jetzt
an faſt unerträglich zu werden, und Todeskälte durchſchauert, fieber¬
haft ſchüttelnd, Mark und Bein. Nach entſetzlich mühevollen, lan¬
gen, langen Verſuchen gelingt es ihr endlich, die Füße aus dem
umgebenden feſten Schlamm etwas zu befreien, ſo daß ſie dieſel¬
ben bewegen und dadurch wieder einige Cirkulation des Blutes
hervorrufen kann. Der ganze übrige Körper bleibt nach wie vor
ſtarr eingemauert. Wie entſetzlich martervoll eine ſolche Lage ſein
mag, vermögen Worte nicht auszumalen.
Endlich iſt eine ganze lange Nacht in dieſem halbtodtähnli¬
chen Zuſtande durchwacht. Die Morgenglocke am Steinerberge
und dann auch die zu Steinen ertönt; ſie läutet abermals Hoff¬
nung in das beinahe gebrochene Herz. Wiederum entſtrömen tief¬
innige Gebete ihren krampfhaft gepreßten Lippen, und wie ein
Strahl der aufgehenden Sonne dringt gewaltſam die zuverſichtliche
Ueberzeugung in ſie ein, daß ſie heute errettet werde. Da! — o
Wunder! ertönt auch wieder die Stimme des geſtorben geglaubten
Kindes! Ein krampfhafter Schlaf hatte ihm die Nacht abgekürzt.
Es klagt aufs Neue über Hunger, heftige Schmerzen und ruft der
Franziska, ihr zu helfen.
Mit Tagesanbruch war der troſtloſe Gatte und Vater mit
ſeinen beiden Knaben wieder an die Schauerſtätte geeilt, wo er
ſchon am vorhergehenden Abend gearbeitet, um womöglich die
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